Seine letzten, arbeitsamen Jahre

Einblicke in Karl Marx’ Leben in Nordlondon von 1881 bis 1883

Im Winter war er oft müde und geschwächt. Das Alter begann, seine gewohnte Energie zu beschränken, und seine Frau hatte Grund, über seinen Gesundheitszustand zunehmend besorgt zu sein. Aber er war immer noch Karl Marx. Mit der gleichen Leidenschaft wie im¬mer plagte er sich ab für die Sache der Emanzipation der Arbeiterklasse. Und er tat es mit derselben Methode, die er sich in seinen jungen Jahren an der Universität angewöhnt hat¬te: akribisch rigoros und kompromisslos kritisch.
Auf einem hölzernen Sessel mit Armlehnen sitzend, hatte er jahrelang den ganzen Tag und bis tief in die Nacht geschuftet, an einem bescheidenen Schreibtisch, der nicht größer als drei Fuß lang, zwei Fuß breit war. Auf dem Tisch war kaum Platz für eine Lampe mit grü¬nem Schirm, Schreibbögen und einige Bücher, an denen er gerade arbeitete. Mehr brauchte er nicht.
Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, mit einem Fenster zum Garten. Der Ta-bakgeruch war verschwunden, nachdem die Ärzte ihm das Rauchen verboten hatten. Aber die Tonpfeifen, aus denen er so viele Jahre lang den Rauch eingesogen hatte, waren noch da, um ihn an die schlaflosen Nächte zu erinnern, die er damit verbracht hatte, die Klassi¬ker der politischen Ökonomie auseinanderzunehmen.
Eine undurchdringliche Regalreihe verbarg die Wände und beherbergte mehr Bücher und Zeitungen, als man für möglich gehalten hätte. Seine Bibliothek war nicht so imposant wie die der bürgerlichen Intellektuellen von gleicher Statur – und ganz sicher größerem Wohl¬stand. In den Jahren seiner größten Armut hatte er vor allem die Ressourcen des Lesesaals
des British Museum genutzt. Später aber hatte er es vermocht, fast zweitausend Bände zu sammeln. Der größte Teil bestand aus ökonomischen Büchern, aber es gab viele Klassiker der politischen Theorie, historische Studien (vor allem auf Französisch) und philosophi¬sche Werke, hauptsächlich aus der deutschen Tradition. Auch naturwissenschaftliche Bü¬cher waren gut repräsentiert.
Die Vielfalt der Sprachen passte zu dieser Vielfalt der Disziplinen. Etwa ein Drittel aller Bü¬cher waren auf Deutsch, etwa ein Viertel auf Englisch, etwas weniger auf Französisch. Es gab auch Werke in anderen romanischen Sprachen wie Italienisch. Ab 1869 – als er be¬gann, Russisch zu lernen, um die Veränderungen im Zarenreich zu studieren – nahmen Bücher mit kyrillischem Alphabet zunehmend einen eigenen beträchtlichen Teil seiner Bi¬bliothek ein.
Aber die Regale waren nicht nur mit akademischen Texten bestückt. Ein anonymer Korre-spondent der »Chicago Tribüne«, der Marx 1878 in seinem Arbeitszimmer besuchte, be¬schrieb ihren Inhalt so: »Man kann jemanden meistens nach den Büchern beurteilen, die er liest. Der Leser möge seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen, wenn ich ihm sage, was mir ein flüchtiger Blick zeigte: Shakespeare, Dickens, Thackeray, Moliere, Racine, Montai¬gne, Bacon, Goethe, Voltaire, Paine; englische, amerikanische und französische Blaubü¬cher (statistische Berichte der Regierungen); politische und philosophische Werke in rus¬sischer, deutscher, spanischer, italienischer Sprache usw. usw.« (…)
Mitten in Marx’ vollgestopftem Arbeitszimmer befand sich ein Ledersofa, auf dem er sich ab und zu zur Ruhe legte. Eines seiner regelmäßigen Entspannungsrituale war es, den Raum zu durchschreiten. Wie sein Schwiegersohn Paul Lafargue schrieb: »Man kann be¬haupten, dass er in seinem Kabinett gehend arbeitete; er setzte sich nur in kurzen Zwi¬schenräumen nieder, um das, was er während des Gehens ausgedacht, niederzuschreiben. Er liebte es auch sehr, im Gehen zu plaudern, indem er von Zeit zu Zeit stehenblieb, wenn die Erörterung lebhaft oder das Gespräch wichtig wurde.« Ein anderer regelmäßiger Besu¬cher jener Zeit berichtet, dass Marx, »wenn die Diskussion ihn stark interessierte, die Ge¬wohnheit (hatte), lebhaft im Zimmer auf und ab zu gehen, als schreite er über das Deck ei¬nes Dampfers, um sich Bewegung zu machen«.
Ein weiterer Tisch stand vor seinem Schreibtisch. Ein gelegentlicher Besucher hätte sich durch das Chaos der Papiere verwirrt gefühlt, aber jeder, der Marx gut kannte, wusste, dass die Unordnung nur scheinbar war: »… alles war eigentlich auf seinem gewünschten Platze und ohne zu su- chen, nahm er immer das Buch oder Heft, dessen er eben bedurfte; selbst während des Plauderns hielt er oft inne, um ein eben erwähntes Zitat oder eine Ziffer im Buche selbst nachzuweisen. Er war eins mit seinem Arbeitszimmer, dessen Bücher und Pa¬piere ihm ebenso gehorchten wie seine eigenen Glieder«, schrieb Lafargue.
Zu seinem Arbeitszimmer gehörte auch eine große Kommode. Hier platzierte er Fotos von Menschen, die er schätzte, z. B. seinen Genossen Wilhelm Wolff, dem er das Kapital wid¬mete. Lange Zeit waren in seinem Arbeitszimmer auch eine Büste von Jove und zwei Mau¬erstücke aus dem Hause Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) zu sehen. Beide erhielt Marx von seinem Arzt und langjährigen Freund Ludwig Kugelmann, der sie ihm zu Weih¬nachten 1867 bzw. zu seinem 52. Geburtstag 1870 schenkte – als in Hannover das Haus des größten deutschen Philosophen des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts abgeris¬sen wurde.
Marx und seine Familie lebten in einem Reihenhaus in der 41 Maitland Park Road im Nor¬den Londons. Er und seine Familie waren 1875 dorthin gezogen, nachdem sie in den vor-hergehenden zehn Jahren größere und teurere Wohnungen in der Nr. 1 gemietet hatten. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Kernfamilie aus Marx und seiner Frau Jenny, seiner jüngsten Tochter Eleanor und Helene Demuth (1823-1890), der hingebungsvollen Haushilfe, die fast 40 Jahre mit ihnen gelebt hatte. (…)
Selten unterbrach er die Zeit, die er seinen mehrsprachigen Studien widmete. Sogar Engels »klagte über Marx, der sich meist nur schwer hatte dazu entschließen können, die Studier¬stube zu verlassen«. Abgesehen von diesen Ausnahmen verließ Marx seine Arbeit nur für die üblichen Pausen und Verabredungen.
Am späten Nachmittag zog er sich einen Mantel an und machte sich auf den Weg zum nahe gelegenen Maitland Park, wo er gerne mit seinem ältesten Enkel Johnny spazieren ging, oder zur etwas weiter entfernten Hampstead Heath, wo er viele glückliche Sonntage mit seiner Familie verbracht hatte. Eine Freundin seiner jüngsten Tochter, die Schauspielerin Marian Comyn, beschrieb kurz und bündig die Szene, die sie häufig ge- sehen hatte: »Oft, wenn ich zusammen mit Eleanor Marx im Wohnzimmer auf dem Teppich saß, vor dem of¬fenen Kaminfeuer, hörten wir, während wir uns in der Dämmerung unterhielten, wie die Haustür leise einschnappte, und gleich darauf sahen wir die Silhouette des Doktors (Marx), der einen schwarzen Mantel und einen weichen Schlapphut trug – seine Tochter pflegte zu sagen, er sehe wie ein Verschwörer aus einem Theaterstück aus -, am Fenster vorbeipas¬sieren; dann kehrte er gewöhnlich erst nach Hause zurück, wenn es ganz dunkel geworden war.« (…)
Zu allem Unglück wurden die Probleme immer schlimmer. Anfang Juni 1881 teilte Marx dem US-ame- rikanischen Journalisten John Swinton mit, dass die Krankheit seiner Frau »mehr und mehr einen verhängnisvollen Charakter« annehme. Er selbst litt unter immer neuen Beschwerden und musste sich wegen eines rheumatischen Beines türkischen Bä¬dern unterziehen. Er hatte eine schlimme Erkältung gehabt, obwohl, wie Engels an Jenny Longuet schrieb: »Was seine Erkältung betrifft, so wird sie bei dem gegenwärtig warmen Wetter fast ganz zurückgehen, und durch eine Luftveränderung an der See völlig ver¬schwinden.« (…) Die erste Hälfte des Jahres 1881 verlief voller derartiger Probleme. Die zweite Hälfte des gleichen Jahres würde noch schlimmer werden.

Published in:

Neues Deutchland

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28 April, 2018

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