Seit einigen Jahren ist in Europa, wenn nicht weltweit, ein wiedererwachendes Interesse an Marx-Studien zu beobachten. Trotz der Behauptung, dass es aus der Mode gekommen sei, steht das Marxsche Denken mit seinem Erklärungs- und Kritikpotential offensichtlich noch immer auf der Tagesordnung, wenn es darum geht, die heutige Welt und ihre Widersprüche zu analysieren und zu kritisieren.
Auch in Italien hat man nach vielen Jahren der Stille wieder begonnen, sich mit seinem Werk intensiver auseinanderzusetzen. Signum dafür ist auch die internationale Konferenz „Auf den Spuren eines Gespenstes. Das Marxsche Werk zwischen Philologie und Philosophie“, die von der Universität von Neapel „Federico II“, dem Universitätsinstitut „Suor Orsola Benincasa“, der Universität von Neapel „L’Orientale“ sowie der Universität Bari und mit Unterstützung verschiedener Kulturinstitute – wie dem renommierten „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ – veranstaltet wurde. Dreißig namhafte Marxforscher aus aller Welt – aus Europa, aber auch aus Japan, Mexiko und China – sind der Einladung gefolgt und zwischen dem 1. und dem 3. April 2004 in Neapel zusammengekommen. Das Treffen war von großem Publikums- und Medieninteresse und regen Diskussionen begleitet, was vor allem auch durch eine aufwendige simultane Verdolmetschung der Beiträge und Debatten in vier Sprachen ermöglicht wurde. So gelang es, ein echtes internationales Forum des Gedankenaustausches und der wissenschaftlichen Kontroverse zu schaffen, aber auch Perspektiven für zukünftige Zusammenarbeit zu eröffnen.
Die internationale Konferenz war in fünf Sektionen gegliedert. Zunächst wurden die textphilologischen Grundlagen reflektiert, auf denen heute jede seriöse Beschäftigung mit Marx beruhen muss. Es folgten Sektionen zum jungen Marx und seinen philosophischen Grundlagen sowie zum „Kapital“. Eine eigene Sektion war der Präsentation wichtiger internationaler Foren des intellektuellen und wissenschaftlichen Austausches der Marx-Forschung gewidmet.
Und schließlich wurde die Frage der Aktualität des Marxschen Denkens diskutiert. Ein wichtiges Ziel der Organisatoren war es, die Arbeit an der historisch- kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) dem italienischen Publikum vorzustellen. Der erste Teil der Konferenz war deshalb den Protagonisten dieses Unterfangens vorbehalten. Manfred Neuhaus (Berlin), der Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, skizzierte die wechselvolle Geschichte der Ausgabe, ihren Aufbau und ihre Editionsgrundsätze: Vollständigkeit – was die Publikation großer Mengen unveröffentlichten Manuskriptmaterials in der MEGA einschließt –, authentische Textwiedergabe und Dokumentation der Textgenese. Dass sich aus diesen Editionsprinzipien neue Perspektiven im Blick auf das Marxsche Werk ergeben, ja dass dieses selbst durch Autorschaftsanalysen bei anonym erschienenen Schriften neue Konturen erhält, konnte Neuhaus am Beispiel jüngst publizierter Bände der MEGA demon- strieren. Gerald Hubmann (Berlin) ergänzte diese Ausführungen mit Überlegungen zum ,Dekonstruktivismus‘ der modernen historisch-kritischen Editionsphilologie. Hier würde nicht mehr – wie in früheren ,Klassiker‘-Ausgaben – in apologetischer Absicht vollendet, was die Autoren selbst nicht fertig gestellt hätten, stattdessen eröffne die Rekonstruktion des authentischen Textmaterials den eigentlichen Problemhorizont des Denkens großer Autoren, wie Hubmann an Beispielen aus dem Marxschen Werk illustrierte.
Der Beitrag Izumi Omuras, des Direktors einer Arbeitsgruppe der MEGA an der Universität von Sendai (Japan), lieferte ein Beispiel für die internationale Zusammenarbeit des Projektes: In japanisch-russisch-deutscher Forschungskooperation wurden die Bearbeitungsmanuskripte zum zweiten Buch des „Kapital“ ediert und mit mo- dernster Technik digital aufbereitet. Malcolm Sylvers (Venedig) gab einen Überblick über die dritte Abteilung der MEGA, die den Briefwechsel enthält. Als Charakteristikum hob Sylvers hervor, dass in der MEGA, im Unterschied zu vorhergehenden Ausgaben, auch die Briefe an Marx und Engels chronologisch eingeordnet würden, was die dialogische Struktur des Briefwechsels hervortreten lasse, wodurch ein wirkliches Verständnis der weit verzweigten Briefkorrespondenz von Marx und Engels überhaupt erst ermöglicht werde. Gian Mario Bravo (Turin) schließlich konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die historische Rekonstruktion der Verbreitung des Marxismus und der Marx- Rezeption in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er konnte zeigen, dass der italienische Sozialismus zwar seinem Selbstverständnis nach marxistisch war, in Wahrheit aber dem Marxschen Denken ziemlich fern stand.
Die zweite Sektion, „Kritik der Philosophie und Kritik der Politik beim jungen Marx“ war der Präsentation und Diskussion einiger neuer Auslegungen der Marxschen Frühschriften gewidmet. Giuseppe Cacciatore (Neapel), Gianfranco Borrelli (Neapel) und Stathis Kouvelakis (London) befassten sich dabei primär mit den Schriften von größerer politischer Betonung: Cacciatore unter- suchte die Frage des demokratischen Gedankens bei Marx, indem er das enge Verhältnis zwischen dem liberal-demokratischen Engagement der „Rheinischen Zeitung“ und den während dieser Phase gereiften philosophischen Ideen hinsichtlich des Widerspruchs zwischen der Zufälligkeit der Privatinteressen und der Wahrheit einer universellen Freiheit untersuchte. Borrelli und Kouvelakis analysierten die Marxschen Arbeiten zwischen 1843 und 1852 und schlossen daraus auf die große Bedeutung derselben für die zukünftigen theoretischen Entwicklungen. Die Beiträge des zweiten Teils der Sektion bezogen sich eher auf die philosophischen Grundlagen: So sprachen Peter Thomas (Queensland/Australien) und Mario Cingoli (Mailand) über die komplexe Beziehung zwischen Idealismus und Materialismus in den Marxschen Frühwerken. Ersterer untersuchte die Dissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ – wobei diese hier als erster theoretischer Text des jungen Marx gewertet wurde –, letzterer rekonstruierte die Genese des Marxschen Materialismus-Begriffs durch einen Vergleich zwischen den Jugendwerken „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ und den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ des Jahres 1844. Marcello Musto (Neapel) ging schließlich auf die Bedeutung der Pariser Zeit des Jahres 1844 für die geistige Entwicklung des jungen Marx ein.
Die dritte Sektion über „Das Kapital: die unvollendete Kritik“ war eine der bedeutsamsten des gesamten Treffens, an der viele wichtige internationale Gelehrte teilnahmen und durch eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Auslegungen des „Kapital“ dessen philologische und philosophisch-ökonomische Komplexität aufzeigten sowie ungelöste Fragen diskutierten. Der Einfluss Hegels auf Marx und sein Werk stand im Mittelpunkt der Referate von Roberto Finelli (Bari), Chris Arthur (Sussex/GB) und Riccardo Bellofiore (Bergamo). Finelli versuchte zu zeigen, wie die Grundstruktur des „Kapital“ aus dem Fichte-Hegelschen ,Zirkel des vorausgesetzt Gesetzten‘ abgeleitet werden könne und wie die Abstraktion vom Arbeitswert durch die reelle Subsumtion der Arbeitskraft durch das Kapital praktisch zu einer echten Abstraktion wird. Arthur behandelte die bedeutsame Homologie zwischen dem Tauschvorgang, der eine praktische Abstraktion von der natürlichen Eigenart der Waren hervorruft, und dem Gedankenvorgang, der ein System von Denkkategorien schafft, und schloss daraus die Möglichkeit, die Wertformen über die Hegelschen Denkkategorien zu erklären.
Bellofiore ging auf diese Fragen durch eine umfassende Darstellung der jüngsten Literatur zu diesem Thema ein. Von den anderen Vortragenden befasste sich Enrique Dussel (Mexico City) eingehend mit der Genese der Marxschen Kategorie der „Quelle“ der Wertschöpfung sowie mit dem Kreislauf des Kapitals, dessen Grenzen in der lebendigen Arbeit, in der Subjektivität des noch nicht subsumierten Arbeitenden liegen, und brachte dieses Konzept mit der derzeitigen Situation in Lateinamerika und seiner Masse von Arbeitslosen in Verbindung. Geert Reuten (Amsterdam) hingegen sprach über die abstrakte Arbeit als innere Substanz des Wertes der Waren und ihre Eigenschaft, letztere in homogene Mengen umzuwandeln. Wolfgang Fritz Haug (Berlin) untersuchte die Veränderungen, die Marx am ersten Buch des „Kapital“ von der ersten Ausgabe 1867 bis zu seiner französischen Übersetzung von 1872–1875 vorgenommen hatte und interpretierte diese Transformationen als Übergang zu einem neuen geschichtsphilosophischen Paradigma. Jacques Bidet (Paris) stellte schließlich sein metastrukturelles Rekonstruktionsprojekt des „Kapital“ vor, mit dem er Lösungen für lange diskutierte Problemfelder der „Kapital“-Konzeption bieten möchte.
Die vierte Sektion war in zwei Abschnitte geteilt. In einem ersten Teil wurden zwei bedeutende wissenschaftliche Publikationsprojekte dem internationalen Fachpublikum präsentiert: Das „Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus“, das bereits beim sechsten der vorgesehenen fünfzehn Bände an- gelangt ist und der erste Band des von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung neu herausgegebenen „Marx-Engels-Jahrbuchs“, der ausschließlich einer Neuedition von wichtigen Teilen der „Deutschen Ideologie“ gewidmet ist. Der zweite Teil der Sektion war als Runder Tisch organisiert und der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch einiger wichtiger internationaler („Actuel Marx“, „Historical Materialism“, „International Socialism Journal“) und italienischer („Critica marxista“, „Alternative“, „Rivista del manifesto“) Magazine gewidmet, die in den vergangenen Jahren Reflexionen zu Marx nicht aus ihrem Interessensbereich gestrichen und Überlegungen zur möglichen Anknüpfung an sein Denken in den verschiedenen Bereichen der gegenwärtigen Welt angestellt haben.
Die fünfte und letzte Sektion „Ein Heute für Marx“ wurde unter Reflexion auf die gegenwärtige internationale Situation eröffnet, die ein neues Marx-Studium ohne Behinderung durch politische Einflüsse erlaubt, die in der Vergangenheit so maßgeblich und irreführend waren. Erst jetzt sind seine Person, seine Werke und sein Denken in vollem Umfang der Erforschung und kritischen Diskussion zugänglich geworden. Abgesehen von den marxistischen Perspektiven verschiedener nationaler Entwicklungen – Wei Xiaoping (Peking) sprach über die Marxforschung in China, Alex Callinicos (York/GB) beschrieb den angelsächsischen Marxismus in den letzten Jahrzehnten – berührte der internationale Vergleich aktueller Perspektiven politische, philosophische und ökonomische Themen. Domenico Losurdo (Urbino) beschäftigte sich zunächst mit den verschiedenen Literaturgenres in den Marxschen Schriften, denen er unterschiedliche politische Intentionen zuordnete, um von dort aus Linien zu möglichen aktuellen Optionen, insbesondere zum Utopismus, zu ziehen. Andre ́ Tosel (Nizza) und Domenico Jervolino (Neapel) brachten gegen das Paradigma der Selbsterzeugung des Menschen ihre Konzeption eines „Communisme de la finitude“ zur Sprache, die schon früher Gegenstand ihrer Arbeiten gewesen war.
Michael Krätke (Amsterdam) betonte im abschließenden Beitrag die un- verminderte Aktualität der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie in der gegenwärtigen Krise der Hegemonie des neoliberalen Denkens. Allerdings sei diese Chance nur zu nutzen, wenn sich die Marxisten an die Bearbeitung der ungelösten Probleme machten, die in Marx’ unvollendetem Werk nach wie vor zu finden seien. Indem Krätke auf die Unabgeschlossenheit des Marxschen „Kapital“-Entwurfes explizit noch einmal hinwies und dazu ermunterte, sich besser auf die Manuskriptlage zu konzentrieren, statt sich mit Interpretationen zur Marxschen dialektischen Methode zu befassen, schlug er den Bogen zu- rück zur Marx-Philologie, fokussierte zugleich aber auch noch einmal die bis heute nicht entschiedenen Kontroversen der Forschung zum Marxschen Werk.
Die Konferenz zeigte somit, dass die fachwissenschaftlichen Debatten um Marx in vollem Gange sind. Parallel dazu ist der seit 1998 in einem veränderten Rahmen erscheinenden Marx-Engels-Gesamtausgabe eine beträchtliche internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden, und das mit Recht: Denn mit der MEGA werden die Textgrundlagen bereitgestellt, auf die jede wissenschaftliche Lektüre rekurrieren muss, und es wird durch die historisch-kritische Edition zugleich eine der Haupteigenschaften des Marxschen Werkes sichtbar: seine Unvollendetheit. Diese mindert den Wert seines Denkens in keiner Weise, sondern es zeigt sich vielmehr ein vielseitiges und polymorphes Vermächtnis, das uns Gelegenheit zur Kritik der Theorie, vielleicht aber auch Möglichkeiten der Anknüpfung bietet.
Marcello
Musto