In sechs Abteilungen geht dieses Buch über Derridas These vom unvertreibbaren >Gespenst< hinaus, indem es dessen Spuren so kompetent nachgeht, dass es ein ^Heute für Marx^^ in Anspruch nehmen kann.
Nachdem herausgearbeitet wurde, was die MEGA² für ein zeitgenössisches Verständnis des Marxschen Werkes bedeutet (Manfred Neuhaus, Gerald Hubmann, Izumi Omura und Malcolm Sylvers, 31-115), stellt sich ein zweiter Abschnitt den beiden großen Lücken der marxistischen Tradition, der unausgearbeiteten ^Kritik der Philosophie^^ und dem für das Projekt eingreifender Theorie besonders gravierenden Fehlen einer ^Kritik der Politik^^ (Mario Cingoli, Peter Thomas, Giuseppe Cacciatore, Marcello Musto, Gianfranco Borrelli und Stathis Kouvelakis, 117-207).
Der folgende Abschnitt stellt wichtige Neulektüren zusammen, die das Kapital seit den 1960er Jahren erfahren hat (leider mit Ausnahme der sog. ^neuen Marxlektüre^^ im Gefolge der Frankfurter Schule in Deutschland, der Kapitallektüre der japanischen Uno-Schule und der ^überdeterministischen^^ Kapitallektüre um Rick Wolff in Amherst, Mass. — immerhin mit Beiträgen von Roberto Finelli, Geert Reuten, Christopher J. Arthur, Riccardo Bellofiore, Enrique Dussel, Jacques Bidet und Wolfgang Fritz Haug, 209-304). Der abschließende Abschnitt wird von einem fulminanten Beitrag von Michael Krätke über die Unersetzlichkeit von Marx bei der Erneuerung der politischen Ökonomie eröffnet (307-24); es folgen Beiträge von André Tosel (325-34) und Domenico Jervolino (335-46) zum Konzept eines >Kommunismus der Endlichkeit<. Domenico Losurdo (347-62) stellt sich der Problematik >der fehlenden Revolution im Westen< (347) und setzt — im Rückgriff auf Marx und Rosa Luxemburg — der etwa von Mill und Mises vertretenen >harmonistischen Sicht< der >Globalisierung< (353) eine Reflexion der mit ihr untrennbar verbundenen >geopolitischen Konflikte< entgegen (353f). Angesichts des >Menschenrechtsimperialismus< der USA, der an die Stelle des >britischen Freihandelsimperialismus< getreten sei (359), kritisiert er eine >imperiale Linke<, die etwa >im Namen der ^Menschenrechte^^ Sanktionen gegen China< fordert — Anzeichen einer >schrecklichen theoretischen und politischen Regression< (360).
Die hiermit umrissene Darstellung wird ergänzt durch mehrere ^Länderstudien^^: Gian Mario Bravo umreißt die ^sozialdemokratische^^ Frühgeschichte des Marxismus in Italien (97-115), Wei Xiaoping den Stand der Marxforschung in China (379-86), und Alex Callinicos gibt einen Überblick über den ^angelsächsischen Marxismus^^ seit den 1930er Jahren (363-78); im Zentrum stehen dabei der >Aufstieg und Fall des analytischen Marxismus< (369ff) sowie die seit den 1960er Jahren erfolgte Schwerpunktverlagerung in die USA (372ff). Die Frage, ob es gelingen wird, mit der ^dritten Welle^^ der Radikalisierung (nach den 1930er und den 1960er Jahren), die er durch die Proteste von Seattle und Genf im Jahre 1999 angezeigt sieht, wieder >einen produktiven Dialog zwischen marxistischer Theorie und antikapitalistischer Praxis< (376) anzuknüpfen, beantwortet er indirekt mit der Forderung, dem >Akademismus< zu entkommen (377). — Russland und Osteuropa kommen nicht vor. Eine westeuropäische Perspektive überwiegt — auch wenn Fenster auf die ^angelsächsisch^^ geprägte ^Weltphilosophie^^ und auf China als eine neu entstehende, auch wissenschaftliche und philosophische Weltmacht geöffnet werden.
Insgesamt vollzieht sich in diesem Band Marx’ Zurückmeldung als ^Klassiker neuen Typs^^, der zeitgenössisches, in erster Linie philosophisches und politisches Denken inspiriert. Den Beiträgen gelingt es, sich von dogmatischen Denklinien zu lösen und marxistisches Denken zu erneuern. Einige exemplarische offene Fragen können deutlich machen, dass hiermit ein theoretischer Neubeginn möglich geworden ist. Zunächst zur Reflexion des Stellenwertes der MEGA²: Können Philologische Gründlichkeit und prozessualer Werkbegriff, wie sie hier der neuen Marxforschung verordnet werden, wirklich als >ein neuer post-ideologischer Zugang< (65) begriffen werden? Wie hilfreich ist die Bezugnahme auf den Begriff des ^Klassikers^^ (59, 66) über pragmatische Zwecke hinaus? Lässt sich das Bild der ^Baustelle^^ sinnvoll für das Kapital reklamieren — reicht hier die Vorstellung aus, es handele sich >um das glänzende Handbuch einer Problematik mit großem analytischen Potenzial< (66)?
Zur Kritik der Philosophie und der Politik herrscht eine genetische Herangehensweise vor, welche die Frage provoziert, was uns die Auseinandersetzung des ^Marx vor Marx^^ mit dem Materialismus (119ff), das (bemerkenswerte) Konzept der >Fastnachtszeit der Philosophie< (133ff), Marx’ Bad Kreuznacher Demokratiekonzeption von 1843 (145ff), die >entscheidende Entwicklung< (170), die Marx in der damaligen >Hauptstadt der neuen Welt< genommen haben soll (161ff) oder auch seine Schriften zur Politik der Kommunisten zwischen 1843 und 1852 (179ff) nun genau helfen sollen, um Fragen etwa nach der ^Politik des Kapitals^^ bzw. der ^Politik gegen das Kapital^^ zu beantworten. Kouvélakis’ Diskussion des Bürgerkriegs in Frankreich hat dagegen nicht nur den Vorteil, dass hierzu eine bereits entwickelte Debatte vorliegt. Sie behandelt auch klassische Themen der Marxschen ^Revolutionstheorie^^: >permanente Revolution< (195f), die >Zertrümmerung der Staatsmaschinerie< (201) und die Frage nach den von Marx nach dem Scheitern der 48er-Revolution vorgenommenen >Berichtigungen< (206f u.ö.). Aber die Frage, welches Verhältnis sich zwischen seinen politischen Analysen und seiner Kritik der politischen Ökonomie herstellen lässt, erscheint nicht einmal am Horizont der Untersuchung.
Weiter zum Kapital als unvollendeter Kritik: Was bedeutet die ^dialektische Darstellung^^ im Kapital? Lässt sie sich mit dem Konstrukt einer ^Setzung der eigenen Voraussetzungen^^ (211) angemessen begreifen? Was bedeutet ^Begreifen^^, was ^Abstraktion^^ (213) für heutiges Wissenschaftsdenken? Was ist die Rolle des Geldes fürs Kapital (vgl. 234f)? Wie kann eine unvollendete Dialektik bzw. eine unvollendete ^Kritik^^ überhaupt funktionieren — können wir sie als >Rekonstruktion< eines >gegebenen Ganzen< begreifen (239), brauchen wir dafür eine >Ontologie< (242ff)? Was müssen wir heute abstreifen und was ^dazutun^^, um das Kapital wissenschaftlich eindeutig und politisch produktiv lesen zu können (vgl. 281ff)? Wie verhält sich Marx’ eigener Forschungs- und Lernprozess (293ff) zu einer ^systematischen^^ Darstellung seiner Theorie — auf dem damaligen und auf dem heutigen Stand epistemologischer Explikation?
Schließlich zur Frage der aktuellen Bedeutung von Marx: Was bedeutet — angesichts des apolitischen Charakters der Wirtschaftswissenschaften (307) — das epistemologische Konzept der Kritik der politischen Ökonomie (309ff)? Was verbirgt sich hinter dem Begriff eines Kommunismus der Endlichkeit, der >eine andere Idee des Kommunismus auf der Höhe der kapitalistischen Globalisierung< verspricht (325)? Was kann und muss theoretisch geleistet werden, damit neue, politisch bedeutsame Initiativen auf dem Felde der von Marx ausgehenden Theorie nicht in einer sterilen akademischen Betriebsamkeit versanden (377)?
Diese offenen Fragen verlangen nach neuen Untersuchungen, die zu einem anderen Marxismus oder auch zu einem anderen Kommunismus führen können. Aber in diesem Anfang liegt zugleich ein Ende: Eine Generation, die von der Krise des Marxismus gezeichnet ist und zu Zeugen des Zusammenbruchs der Staatenformation wurde, die sich als reale Verkörperung marxistischer Politik dargestellt hatte, legt hier Ergebnisse ihrer Anstrengungen vor, Pfade aus dieser Krise zu finden. Das gibt dieser Kongressdokumentation den Charakter eines Handbuchs, Ausgangsbasis für das weitere Arbeiten. Die Übersetzung in alle Weltsprachen ist zu wünschen (eine spanischsprachige Ausgabe erscheint demnächst in Mexiko).
Marcello
Musto