Eric Hobsbawm (1917-2012) galt als einer der größten lebenden Historiker.
Zu seinen zahlreichen Arbeiten zählen die Trilogie über «das lange 19. Jahrhundert»: «Europäische Revolutionen. 1789–1848» (dt. 1962), «Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1874 (dt. 1975), «Das imperiale Zeitalter. 1875–1914» (dt. 1989) sowie «Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts» (dt. 1995)
Zwei Jahrzehnte nach 1989, als er zu eilig dem Vergessen übergeben wurde, ist Karl Marx ins Rampenlicht zurückgekehrt. So widmete das französische Magazin Nouvel Observateur 2003 eine Spezialausgabe dem Thema «Karl Marx – der Denker des dritten Jahrtausends?». Ein Jahr später stimmten in einer Meinungsumfrage des Fernsehsenders ZDF nach den wichtigsten Deutschen aller Zeiten mehr als 500.000 Zuschauer für Marx; er wurde Dritter in der allgemeinen Eingruppierung und erster in der Kategorie «gegenwärtige Bedeutung». Dann porträtierte ihn 2005 das Wochenmagazin Der Spiegel auf seinem Deckblatt unter dem Titel «Ein Gespenst kehrt zurück», während Hörer des Programms «Zu unserer Zeit» auf BBC 4 für Marx als den größten Philosophen stimmten. In einem kürzlich veröffentlichten Gespräch mit Jacques Attali sagten Sie paradox «es sind mehr die Kapitalisten als andere, die Marx wiederentdeckt haben», und Sie sprachen von Ihrem Erstaunen, als der Geschäftsmann und liberale Politiker George Soros zu Ihnen sagte: «Ich habe gerade Marx gelesen, und es gibt schrecklich viel Wahres in dem, was er sagt.» Was sind die Gründe für diese Wiederbelebung? Ist sein Werk nur für Spezialisten und Intellektuelle von Interesse, sollte es in Universitätskursen als große Klassik des modernen Denkens vorgestellt werden, das nie vergessen werden sollte? Oder könnte eine neue «Nachfrage nach Marx» zukünftig auch von politischer Seite kommen?
Es gibt eine unbezweifelbare Wiederbelebung des öffentlichen Interesses an Marx in der kapitalistischen Welt, wenn auch wahrscheinlich noch nicht in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Diese Wiederbelebung wurde vermutlich durch die Tatsache beschleunigt, daß das 150jährige Jubiläum der Veröffentlichung des «Manifests der Kommunistischen Partei» 1998 mit einer besonders dramatischen wirtschaftlichen Krise mitten in einer Periode der ultra-schnellen Globalisierung freier Märkte zusammentraf.
Marx hat die Natur der Wirtschaft des frühen 21. Jahrhunderts 150 Jahre zuvor vorhergesagt – auf der Basis seiner Analyse der «bürgerlichen Gesellschaft». Es ist nicht überraschend, daß intelligente Kapitalisten – besonders im globalisierten Finanzsektor – von Marx beeindruckt wurden, da sie sich notwendigerweise der Natur und der Instabilitäten der kapitalistischen Wirtschaft, in der sie operieren, bewußter sind als andere. Die meisten in der intellektuellen Linken wußten nicht mehr, was sie mit Marx anfangen sollten. Sie waren durch den Zusammenbruch des sozialdemokratischen Projekts in den meisten nordatlantischen Staaten während der 80er Jahre und durch den massenhaften Gesinnungswandel nationaler Regierungen zur Freien-Markt-Ideologie demoralisiert, ebenso wie durch den Zusammenbruch des politischen und wirtschaftlichen Systems, das behauptet hatte, durch Marx und Lenin inspiriert zu sein.
Natürlich bedeutet das nicht, daß man aufhören wird, Marx als großen und klassischen Denker zu betrachten. Jedoch gab es – besonders in Ländern wie Frankreich und Italien mit einst mächtigen kommunistischen Parteien – eine leidenschaftliche intellektuelle Offensive gegen Marx und gegen marxistische Analysen, die ihre Höhepunkte wahrscheinlich in den 80er und 90er Jahren hatte. Es gibt Anzeichen dafür, daß sie jetzt an ein Ende gelangt ist.
Sein gesamtes Leben lang war Marx ein kluger und unermüdlicher Forscher, der besser als irgend jemand sonst zu seiner Zeit die Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab erspürte und analysierte. Er verstand, daß die Geburt einer globalisierten internationalen Wirtschaft der kapitalistischen Produktionsweise inhärent war, und sagte voraus, daß dieser Prozeß nicht nur Wachstum und Wohlstand, auf den liberale Theoretiker und Politiker stolz verwiesen, hervorbringen würde, sondern auch gewaltsame Konflikte, Wirtschaftskrisen und umfassende soziale Ungerechtigkeit. Im vergangenen Jahrzehnt erlebten wir die ostasiatische Finanzkrise, die im Sommer 1997 begann, die argentinische Wirtschaftskrise von 1999 bis 2002 und vor allem die «Subprime«-Krise, die 2006 in den Vereinigten Staaten begann und jetzt die größte Finanzkrise der Nachkriegszeit geworden ist. Ist es deswegen richtig zu sagen, daß die Wiederkehr des Interesses an Marx auch auf der Krise der kapitalistischen Gesellschaft beruht, und darauf, daß gestützt auf ihn die grundlegenden Widersprüche der heutigen Welt erklärt werden können?
Ob die zukünftige Politik der Linken einmal erneut von Marx’ Analyse angeregt wird wie die alten sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, wird davon abhängen, was mit dem Weltkapitalismus passiert. Aber das bezieht sich nicht nur auf Marx, sondern auf die Linke als kohärenter politischer Ideologie und als Projekt. Da – wie Sie richtig sagen – die Wiederkehr des Interesses an Marx weitgehend – ich würde sagen hauptsächlich – auf der gegenwärtigen Krise der kapitalistischen Gesellschaft basiert, ist die Aussicht vielversprechender als in den 1990er Jahren.
Die derzeitige Finanzkrise, die in den USA zu einer großen ökonomischen Depression werden kann, bedeutet ein dramatisches Versagen der Theologie des unkontrollierten freien Marktes und zwingt sogar die US-Regierung, staatliche Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die man seit den 1930ern vergessen hatte. Politische Zwänge schwächen bereits das Engagement von wirtschaftspolitisch neoliberalen Regierungen für unkontrollierte, unbegrenzte und unregulierte Globalisierung. In einigen Fällen wie in China rufen die enormen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die durch einen En-gros-Übergang zur Wirtschaft eines freien Marktes verursacht werden, gewaltige Probleme für die soziale Stabilität hervor und lassen selbst auf den höheren Ebenen der Regierung Zweifel aufkommen.
Es ist klar, daß jede «Rückkehr zu Marx» wesentlich eine Rückkehr zu Marx’ Analyse des Kapitalismus und zu deren Platz in der historischen Evolution der Menschheit ist – eingeschlossen vor allem seine Analyse der zentralen Instabilität der kapitalistischen Entwicklung, die durch von ihr selbst hervorgebrachte periodische Wirtschaftskrisen voranschreitet. Kein Marxist konnte auch nur für einen Moment wähnen, daß der liberale Kapitalismus sich selbst für immer etabliert hätte – wie neoliberale Ideologen 1989 behaupteten –, daß die Geschichte zu einem Ende gekommen sei, oder daß tatsächlich irgendein System menschlicher Verhältnisse jemals abschließend und endgültig sein könnte.
Wenn die politischen und intellektuellen Kräfte der internationalen Linken auf die Ideen von Marx verzichteten, würden sie dann einen grundlegenden Leitfaden für die Prüfung und Transformation der heutigen Realität verlieren?
Kein Sozialist kann auf die Ideen von Marx verzichten, da seine Überzeugung, daß auf den Kapitalismus eine andere Form der Gesellschaft folgen muß, nicht auf Hoffnung oder Willen beruht, sondern auf einer ernsthaften Analyse der historischen Entwicklung, besonders in der kapitalistischen Ära. Seine aktuelle Vorhersage, daß der Kapitalismus durch ein gesellschaftlich geleitetes und geplantes System ersetzt werden wird, erscheint immer noch begründet, auch wenn er sicherlich die Marktelemente unterschätzte, die in jedem nach-kapitalistischem System überleben würden. Da er sich sehr bewußt jeder Spekulation über die Zukunft enthielt, kann er nicht für die besonderen Methoden verantwortlich gemacht werden, mit denen «sozialistische» Wirtschaften im «real existierendem Sozialismus» organisiert wurden. Was die Ziele des Sozialismus angeht, war Marx nicht der einzige Denker, der eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Entfremdung wollte, in der alle menschlichen Wesen ihre Fähigkeiten entfalten können, aber er drückte dieses Bestreben kraftvoller aus als irgendein anderer, und seine Worte haben noch immer die Kraft zu begeistern.
Marx wird jedoch nicht als ein politischer Anreger der Linken zurückkehren, bevor nicht verstanden wird, daß seine Schriften nicht als autoritative oder anderweitige politische Programme behandelt werden sollten, auch nicht als Beschreibungen der aktuellen Situation des heutigen Weltkapitalismus, sondern eher als Leitfäden zu seiner Art, die Natur der kapitalistischen Entwicklung zu begreifen. Wir können und sollten auch nicht vergessen, daß er nicht dazu kam, eine zusammenhängende und völlig durchdachte Vorstellung seiner Ideen zu liefern – trotz der Versuche von Engels und anderen, einen Band II und III des «Kapital» aus den Manuskripten von Marx zu konstruieren. Wie die «Grundrisse» zeigen, hätte selbst ein vollständiges «Kapital» nur einen Teil von Marx’ eigenem, vielleicht ausufernd ehrgeizigem Plan dargestellt.
Auf der anderen Seite wird Marx für die Linke nicht an Bedeutung gewinnen, bevor nicht die gegenwärtige Tendenz bei radikalen Aktivisten, Antikapitalismus in Antiglobalismus zu wenden, zu einem Ende kommt. Die Globalisierung gibt es und sie ist – falls es nicht zu einem Kollaps der menschlichen Gesellschaft kommt – irreversibel. Marx erkannte sie in der Tat als Faktum an und – als Internationalist – begrüßte er sie im Prinzip. Was er kritisierte und was wir kritisieren müssen, war die Art der Globalisierung, die der Kapitalismus produzierte.
Im Vorwort zu dem von mir herausgegebenen Sammelband über die «Grundrisse» von 1857/1858 (siehe unten) halten Sie fest, daß diese «Analysen und Einsichten enthalten, z. B. über Technologie, die Marx’ Untersuchung des Kapitalismus weit über das 19. Jahrhundert hinausheben, in eine Gesellschaftsära, in der Produktion nicht länger Massenarbeit erfordert, einer Ära der Automation, des Potentials von Freizeit, und der Transformation von Entfremdung unter solchen Umständen. Es ist der einzige Text, der etwas über Marx’ eigene Bemerkungen zur kommunistischen Zukunft in der ›Deutschen Ideologie‹ hinausgeht. Kurz gesagt, er wurde richtig beschrieben als Marx’ Denken in seiner reichsten Form.» Daher: Was könnte das Ergebnis einer neuen Lektüre der «Grundrisse» heute sein?
Es gibt wahrscheinlich nicht mehr als eine Handvoll Herausgeber und Übersetzer, die komplette Kenntnis von dieser gewaltigen und offenkundig schwierigen Textmasse haben. Aber eine Wiederlektüre oder besser eine heutige Lektüre könnte uns helfen, Marx neu zu durchdenken: Zu unterscheiden, was das Allgemeine in Marx’ Analyse des Kapitalismus ist und was das Spezifische in der Situation einer «bürgerlichen Gesellschaft» Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir können nicht vorhersagen, welche Schlußfolgerungen aus dieser Untersuchung möglich und wahrscheinlich sind, nur, daß sie sicherlich nicht einmütige Zustimmung finden werden.
Warum ist es heute wichtig, Marx zu lesen?
Jedem, der an Ideen interessiert ist, ob Universitätsstudent oder nicht, ist offenkundig klar, daß Marx einer der größten philosophischen Köpfe und ökonomischen Analytiker des 19. Jahrhunderts war und es bleiben wird, sowie – in den besten Passagen – der Autor einer leidenschaftlichen Prosa. Es ist außerdem wichtig, Marx zu lesen, weil die Welt, in der wir heute leben, nicht verstanden werden kann ohne den Einfluß, den die Schriften dieses Mannes auf das 20. Jahrhundert hatten. Und schließlich sollte er gelesen werden, weil – wie er selbst schrieb, die Welt nicht verändert werden kann, wenn man sie nicht verstanden hat – und Marx’ Schriften bleiben ein überragender Leitfaden zum Verständnis der Welt und der Probleme, denen wir entgegentreten müssen.
Übersetzung aus dem Englischen: Arnold Schölzel
Marcello
Musto