Karl Marx: Der Gegner des Kolonialismus und Befürworter der Befreiung des arabischen Volkes

Was hat Marx im Maghreb gemacht?
Im Winter 1882, im letzten Jahr seines Lebens, erkrankte Karl Marx an einer schweren Bronchitis, und sein Arzt empfahl ihm einen Erholungsaufenthalt an einem warmen Ort. Gibraltar kam nicht in Frage, da Marx für die Einreise einen Reisepass benötigt hätte, den er als Staatenloser nicht besaß. Das Bismarcksche Reich war schneebedeckt und blieb ihm ohnehin verwehrt, und Italien kam nicht in Frage, und zwar, wie Friedrich Engels es ausdrückte, „aus einfach polizeilichen Gründen. Polizeischikanen bei Rekonvaleszenten zu verhindern ist erste Bedingung“ (Engels 1967: 265)

Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Marx, und Engels überzeugten den Patienten, nach Algier zu fahren, das damals bei den Engländern einen guten Ruf genoss, um den Unbilden des Winters zu entgehen. Wie sich Marx’ Tochter Eleanor Marx später erinnerte, war das, was Marx zu dieser ungewöhnlichen Reise veranlasste, sein wichtigstes Ziel: die Fertigstellung des „Kapital“.

Marx durchquerte England und Frankreich mit dem Zug und fuhr dann mit dem Schiff über das Mittelmeer. In Algier lebte er 72 Tage lang. Es war die einzige Zeit seines Lebens, die Marx außerhalb Europas verbrachte. Die Tage vergingen, aber Marx’ Gesundheitszustand verbesserte sich nicht. Sein Leiden war nicht nur körperlich. Er war nach dem Tod seiner Frau sehr einsam und schrieb an Engels, dass er „hier und da Anwandlungen einer profunda melancolia, gleich dem großen Don Quixotte“ (Marx, Karl 1967: 44) habe. Er vermisste zudem die für ihn stets wichtige ernsthafte intellektuelle Tätigkeit, die sein Gesundheitszustand ihm nicht erlaubte.

Auswirkungen der Einführung des Privateigentums durch die französischen Kolonisatoren
Die Abfolge zahlreicher ungünstiger Ereignisse erlaubte es Marx nicht, der algerischen Realität auf den Grund zu gehen, und es war ihm auch nicht wirklich möglich, die Merkmale des Gemeineigentums unter den Arabern zu untersuchen – ein Thema, das ihn Jahre zuvor sehr interessiert hatte. Im Jahr 1879 hatte Marx in einem seiner Studienhefte Teile des Buches des russischen Soziologen Maxim Kowalewski „Der Gemeindelandbesitz – Ursachen, Verlauf und Folgen seines Zerfalls“ kopiert. Sie befassten sich unter anderem mit der Bedeutung des Gemeineigentums in Algerien vor der Ankunft der französischen Kolonisatoren sowie mit den von diesen eingeführten Veränderungen. Marx entnahm dem Buch von Kowalewski folgenden Auszug: „Stiftung v. Privateigentum (im Aug d. französ. bourgois) nothwendige Bedingung jedes Fortschritts in polit. u. socialer Sphäre. Weitere Erhaltung des Gemeinde-Eigenthums ‚als einer Form, die in d. Geistern kommunistische Tendenzen unterstützt‘ (Débàts-d. Assemblée nation. 1873) gefährlich, sowohl für d. Colonie, als für d. Metropole“ (Marx 1977: 100) Er wies auch auf die folgenden Bemerkungen Kowalewskis hin, dass diese Politik von den Franzosen „als einziger Weg zu weiterem Uebergang d. Grundeigenthums aus d. Händen der natives in die der Colonisten“ (Marx 1977: 101) verfolgt worden sei und notiert: „Dieselbe Politik durch d. francuzami [Franzosen] verfolgt unter allen einander stürzenden régimès von 1830 bis to-day. […] Mittel wechseln manchmal; Ziel stets dasselbe: Vernichtung des einheimischen Collectiveigenthums in Gegenstand freien Kauf’s u. Verkaufs u. dadurch erleichterten finalen Uebergang desselben in Hände der französischen Colonisten.“ (Marx 1977: 101).

Was die vom linken Republikaner Jules Warnier vorgeschlagene und 1873 verabschiedete Algerien-Gesetzgebung anbelangt, so schloss sich Marx der These Kowalewskis an, dass ihr einziges Ziel die „Expropriation v. Grund u. Boden d. einheimischen Bevölkerung durch europäische Colonisten u. Spekulanten“ (Marx 1977: 107) sei. Die Unverfrorenheit der Franzosen ging sogar so weit, dass sie das gesamte unkultivierte Land, das den Eingeborenen zur gemeinsamen Nutzung verblieb, gewaltsam raubten und in „Regierungseigenthum“ (Marx 1977: 101) umwandelten. Damit sollte ein weiteres wichtiges Resultat erzielt werden: die Beseitigung der Gefahr eines Widerstands seitens der lokalen Bevölkerung. Wiederum, ausgedrückt in den Worten von Kowalewski, notierte Marx: “Die Gründung v. Privateigenthum, d. Ansiedlung europäischer Colonisten unter den arabischen Geschlechtern … werden d. kräftigsten Mittel sein zur Beschleunigung des Processes der Auflösung der Geschlechts-Verbände.“ (Marx 1977: 103) Weiter vermerkte Marx: „D. Expropriation d. Araber, von dem, Gesetz beabsichtigt: 1) um d. französischen Colonisten mit möglichst viel Land zu versehn; 2) durch Losreissung d. Araber von ihrem natürlichen Band an Boden, die letzte Macht der so sich auflösenden Geschlechtsverbände zu brechen u. damit jede Aufstandsgefahr.“ (Marx 1977: 108) Abschließend bemerkte Marx: „Durch d. Individualisation des Grundeigenthums also auch der polit. Zweck erreicht – die Grundlage dieser Gesellschaft zu vernichten.“ (Marx 1977: 109)

Reflexionen über die arabische Welt
Im Februar 1882, als Marx in Algier weilte, dokumentierte ein Artikel in der lokalen Tageszeitung The News die Ungerechtigkeiten des neu geschaffenen Systems. Theoretisch konnte damals jeder französische Staatsbürger, ohne Frankreich zu verlassen, eine Konzession für mehr als 100 Hektar algerischen Bodens erwerben, die er dann für 40.000 Francs an einen Einheimischen weiterverkaufen konnte. Im Durchschnitt verkauften die französischen Siedler jede Parzelle, die sie für 20-30 Francs erworben hatten, zum Preis von 300 Francs.

Aufgrund seiner Krankheit war Marx nicht in der Lage, dieses Thema zu studieren. In den sechzehn erhaltenen Briefen von Marx aus Algier (er schrieb mehr, aber sie sind verloren gegangen) hat er jedoch eine Reihe interessanter Beobachtungen gemacht. Besonders hervorzuheben sind diejenigen, die sich mit den sozialen Beziehungen unter Muslimen befassen. Marx war von einigen Merkmalen der arabischen Gesellschaft tief beeindruckt. Die Besucher eine Kaffeehauses beobachtend, schrieb er an seine Tochter Laura: „Auf einem ungehobelten Tisch in gebeugter Haltung, mit gekreuzten Beinen ein halbes Dutzend maurischer Gäste […] genossen ihr kleines ‚Kaffeekännchen‘ (jeder erhält sein eigenes) und spielten zusammen Karten (dies ein Sieg, den die Zivilisation über sie errungen hat). Höchst eindrucksvoll dieses Schauspiel: Einige dieser Mauren waren anspruchsvoll, sogar reich gekleidet, andere in, ich wage es diesmal, so zu nennen, Blusen, einst von weißem wollenem Aussehen, jetzt in Lumpen und Fetzen – aber in den Augen eines echten Moslems unterscheiden solche Zufälle wie Glück oder Unglück Mohammeds Kinder nicht untereinander. Absolute Gleichheit in ihrem gesellschaftlichem Umgang nicht beeinflusst; im Gegenteil, nur wenn sie demoralisiert sind, werden sie dessen gewahr; was den Hass gegen die Christen und die Hoffnung auf einen schließlichen Sieg über diese Ungläubigen anlangt, so betrachten ihre Politiker mit Recht dieses Gefühl und die Praxis absoluter Gleichheit (nicht des Wohlstands oder der Stellung, sondern der Persönlichkeit) als eine Garantie dafür, um das eine aufrechtzuerhalten und das letztere nicht aufzugeben. Dennoch gehen sie zum Teufel ohne eine revolutionäre Bewegung.“ (Marx: 308f.- im Original weitgehend in Englisch)

In seinen Briefen griff Marx zornig die gewalttätigen Übergriffe und ständigen Provokationen der Europäer an, nicht zuletzt ihre „schamlose Arroganz, Prätention und grausamer Moloch-Sühne-Wut gegenüber den ‚unteren Racen“ (Marx 1967a: 54) im Hinblick auf jeden Akt der Rebellion. Er betonte auch, dass in der vergleichenden Geschichte der kolonialen Besetzung „die Briten und Holländer […] die Franzosen“ (ebd.) übertreffen. Er schrieb an Engels, dass ein fortschrittlicher Richter Fermé, den er traf, im Laufe seiner Karriere in Algier regelmäßig gesehen habe, wie regulär eine Art Tortur zur Erpressung der Geständnisse von Arabern angewandt wird; natürlich das tut die ‚Polizei‘ (wie die Engländer in Indien)“ (ebd.). Fermè hatte Marx berichtet, dass, „wenn z.B. Moritat [Mord] durch eine Araberbande verrichtet“ wurde, „meistens zum Zweck Raubs, richtig die wirklichen Missetäter nach einiger Zeit erwischt, gerichtet, geköpft werden, so genügt das der verletzten Kolonistenfamilie nicht zur Sühne. Sie verlangt mindestens into the bargain ein halbes Dutzend unschuldiger Araber ein bißche zu ‚keppe‘. […] Doch wissen wir, daß, wo ein europäischer Kolonist angesiedelt oder auch nur geschäftshalber unter den ‚unteren Racen‘ verweilt, er im allgemeinen sich untastbarer betrachtet als der schöne Wilhelm I.“ (ebd.)

Gegen die britische Kolonialherrschaft in Ägypten
Einige Monate später sparte Marx nicht mit scharfer Kritik an der britischen Präsenz in Ägypten. Der Krieg von 1882, der von britischen Truppen geführt wurde, beendete den sogenannten Urabi-Aufstand, der 1879 begonnen hatte, und ermöglichte den Briten die Errichtung eines Protektorats über Ägypten. Marx war wütend auf fortschrittliche Menschen, die sich als unfähig erwiesen, eine autonome Klassenposition einzunehmen, und er warnte, dass es für die Arbeiter absolut notwendig sei, sich den Institutionen und der Rhetorik des Staates zu widersetzen.

Als Joseph Cowen, ein Abgeordneter und Präsident des Genossenschaftskongresses – den Marx für den besten der englischen Parlamentarier hielt – die britische Invasion in Ägypten rechtfertigte, drückte Marx seine völlige Missbilligung aus.

Vor allem wetterte er gegen die britische Regierung: „Sehr schene! In der Tat eine schamlosere hypokritisch christlichere ‚Eroberung‘ als die Ägyptens – Eroberung im tiefen Frieden!“ (Marx 1967c: 422) Aber Cowen bewunderte in einer Rede am 8. Januar 1883 in Newcastle die „Heldentaten“ der Briten und den „Glanz unserer Militärparade“, wozu Marx kommentierte: „und schmunzelt nicht aber selbst Cowen vor dem zauberschönen Bildchen aller befestigten Offensivpunkte vom atlantischen bis zum indischen Meer, und dazu into the bargain ein ‚afrikanisch-britisches Reich‘ vom Delta [des Nil] bis zum Kapland“ (ebd.). Es sei typisch für die Briten, von Verantwortung für die „heimischen Interessen“ zu sprechen. In der Außenpolitik, so schloss Marx, sei Cowen ein typisches Beispiel für jene „seufzenden Bourgeois (und auch Cowen ist Bourgeois in dem Punkt)“, die „mehr und mehr ‚responsabilities‘ im Dienst ihrer historischen Mission aufnehmen, vergebens sich dagegen sträubend“ (ebd.).

Marx hat die außereuropäischen Gesellschaften gründlich untersucht und sich unmissverständlich gegen die Verheerungen des Kolonialismus ausgesprochen. Es ist ein Irrtum, etwas anderes zu behaupten, trotz des instrumentellen Skeptizismus, der heutzutage in einigen liberalen akademischen Kreisen mit Blick auf Marx so in Mode ist.

Im Laufe seines Lebens verfolgte Marx aufmerksam die wichtigsten Ereignisse der internationalen Politik, und wie wir aus seinen Schriften und Briefen ersehen können, sprach er sich in den 1880er Jahren entschieden gegen die britische Kolonialunterdrückung in Indien und Ägypten sowie gegen den französischen Kolonialismus in Algerien aus. Er war alles andere als eurozentrisch und nur auf den Klassenkonflikt fixiert. Marx hielt das Studium neuer politischer Konflikte und geografischer Randgebiete für grundlegend für seine fortwährende Kritik am kapitalistischen System. Vor allem aber stellte er sich immer auf die Seite der Unterdrückten.

Literatur
Engels, Friedrich (1967): Brief an Eduard Bernstein vom 25. Januar 1882. In: MEW, Bd. 35. Berlin: Dietz, 265–268.
Marx, Karl (1967a): Brief an Friedrich Engels vom 8. April 1882. In: MEW, Bd. 35. Berlin: Dietz, 53–55.
Marx, Karl (1967b): Brief an Laura Lafargue vom 13. April 1882. In: MEW, Bd. 35. Berlin: Dietz, 305–311.
Marx, Karl (1967c): Brief an seien Tochter Eleanor vom 9. Januar 1883. In: MEW, Bd. 35. Berlin: Dietz, 421–422.
Marx, Karl (1977): Exzerpte aus M. M. Kovalevskij: Obščinnoe zemlevladenie (Der Gemeindelandbesitz). In: Harstick, Hans-Peter (Hrsg.), Karl Marx über Formen vorkapitalistischer Produktion. Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums 1879-80. Frankfurt am Main/New York: Campus, 21–109.
Marx, Karl, Friedrich (1967): Brief an Friedrich Engels vom 1. März 1882. In: MEW, Bd. 35. Berlin: Dietz, 44–46.
Marcello Musto ist Professor für Soziologie an der York University (Toronto – Kanada). Zu seinen wichtigsten Schriften gehört Der späte Marx. Eine intellektuelle Biografie der Jahre 1881 bis 1883 (VSA, 2018).

Published in:

Sozialismus.de

Pub Info:

1 March, 2024

Available in: