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Leitfaden zum Verständnis der Welt

Eric Hobsbawm (1917-2012) galt als einer der größten lebenden Historiker.

Zu seinen zahlreichen Arbeiten zählen die Trilogie über «das lange 19. Jahrhundert»: «Europäische Revolutionen. 1789–1848» (dt. 1962), «Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1874 (dt. 1975), «Das imperiale Zeitalter. 1875–1914» (dt. 1989) sowie «Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts» (dt. 1995)

Zwei Jahrzehnte nach 1989, als er zu eilig dem Vergessen übergeben wurde, ist Karl Marx ins Rampenlicht zurückgekehrt. So widmete das französische Magazin Nouvel Observateur 2003 eine Spezialausgabe dem Thema «Karl Marx – der Denker des dritten Jahrtausends?». Ein Jahr später stimmten in einer Meinungsumfrage des Fernsehsenders ZDF nach den wichtigsten Deutschen aller Zeiten mehr als 500.000 Zuschauer für Marx; er wurde Dritter in der allgemeinen Eingruppierung und erster in der Kategorie «gegenwärtige Bedeutung». Dann porträtierte ihn 2005 das Wochenmagazin Der Spiegel auf seinem Deckblatt unter dem Titel «Ein Gespenst kehrt zurück», während Hörer des Programms «Zu unserer Zeit» auf BBC 4 für Marx als den größten Philosophen stimmten. In einem kürzlich veröffentlichten Gespräch mit Jacques Attali sagten Sie paradox «es sind mehr die Kapitalisten als andere, die Marx wiederentdeckt haben», und Sie sprachen von Ihrem Erstaunen, als der Geschäftsmann und liberale Politiker George Soros zu Ihnen sagte: «Ich habe gerade Marx gelesen, und es gibt schrecklich viel Wahres in dem, was er sagt.» Was sind die Gründe für diese Wiederbelebung? Ist sein Werk nur für Spezialisten und Intellektuelle von Interesse, sollte es in Universitätskursen als große Klassik des modernen Denkens vorgestellt werden, das nie vergessen werden sollte? Oder könnte eine neue «Nachfrage nach Marx» zukünftig auch von politischer Seite kommen?

Es gibt eine unbezweifelbare Wiederbelebung des öffentlichen Interesses an Marx in der kapitalistischen Welt, wenn auch wahrscheinlich noch nicht in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Diese Wiederbelebung wurde vermutlich durch die Tatsache beschleunigt, daß das 150jährige Jubiläum der Veröffentlichung des «Manifests der Kommunistischen Partei» 1998 mit einer besonders dramatischen wirtschaftlichen Krise mitten in einer Periode der ultra-schnellen Globalisierung freier Märkte zusammentraf.

Marx hat die Natur der Wirtschaft des frühen 21. Jahrhunderts 150 Jahre zuvor vorhergesagt – auf der Basis seiner Analyse der «bürgerlichen Gesellschaft». Es ist nicht überraschend, daß intelligente Kapitalisten – besonders im globalisierten Finanzsektor – von Marx beeindruckt wurden, da sie sich notwendigerweise der Natur und der Instabilitäten der kapitalistischen Wirtschaft, in der sie operieren, bewußter sind als andere. Die meisten in der intellektuellen Linken wußten nicht mehr, was sie mit Marx anfangen sollten. Sie waren durch den Zusammenbruch des sozialdemokratischen Projekts in den meisten nordatlantischen Staaten während der 80er Jahre und durch den massenhaften Gesinnungswandel nationaler Regierungen zur Freien-Markt-Ideologie demoralisiert, ebenso wie durch den Zusammenbruch des politischen und wirtschaftlichen Systems, das behauptet hatte, durch Marx und Lenin inspiriert zu sein.

Natürlich bedeutet das nicht, daß man aufhören wird, Marx als großen und klassischen Denker zu betrachten. Jedoch gab es – besonders in Ländern wie Frankreich und Italien mit einst mächtigen kommunistischen Parteien – eine leidenschaftliche intellektuelle Offensive gegen Marx und gegen marxistische Analysen, die ihre Höhepunkte wahrscheinlich in den 80er und 90er Jahren hatte. Es gibt Anzeichen dafür, daß sie jetzt an ein Ende gelangt ist.

Sein gesamtes Leben lang war Marx ein kluger und unermüdlicher Forscher, der besser als irgend jemand sonst zu seiner Zeit die Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab erspürte und analysierte. Er verstand, daß die Geburt einer globalisierten internationalen Wirtschaft der kapitalistischen Produktionsweise inhärent war, und sagte voraus, daß dieser Prozeß nicht nur Wachstum und Wohlstand, auf den liberale Theoretiker und Politiker stolz verwiesen, hervorbringen würde, sondern auch gewaltsame Konflikte, Wirtschaftskrisen und umfassende soziale Ungerechtigkeit. Im vergangenen Jahrzehnt erlebten wir die ostasiatische Finanzkrise, die im Sommer 1997 begann, die argentinische Wirtschaftskrise von 1999 bis 2002 und vor allem die «Subprime«-Krise, die 2006 in den Vereinigten Staaten begann und jetzt die größte Finanzkrise der Nachkriegszeit geworden ist. Ist es deswegen richtig zu sagen, daß die Wiederkehr des Interesses an Marx auch auf der Krise der kapitalistischen Gesellschaft beruht, und darauf, daß gestützt auf ihn die grundlegenden Widersprüche der heutigen Welt erklärt werden können?

Ob die zukünftige Politik der Linken einmal erneut von Marx’ Analyse angeregt wird wie die alten sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, wird davon abhängen, was mit dem Weltkapitalismus passiert. Aber das bezieht sich nicht nur auf Marx, sondern auf die Linke als kohärenter politischer Ideologie und als Projekt. Da – wie Sie richtig sagen – die Wiederkehr des Interesses an Marx weitgehend – ich würde sagen hauptsächlich – auf der gegenwärtigen Krise der kapitalistischen Gesellschaft basiert, ist die Aussicht vielversprechender als in den 1990er Jahren.

Die derzeitige Finanzkrise, die in den USA zu einer großen ökonomischen Depression werden kann, bedeutet ein dramatisches Versagen der Theologie des unkontrollierten freien Marktes und zwingt sogar die US-Regierung, staatliche Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die man seit den 1930ern vergessen hatte. Politische Zwänge schwächen bereits das Engagement von wirtschaftspolitisch neoliberalen Regierungen für unkontrollierte, unbegrenzte und unregulierte Globalisierung. In einigen Fällen wie in China rufen die enormen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die durch einen En-gros-Übergang zur Wirtschaft eines freien Marktes verursacht werden, gewaltige Probleme für die soziale Stabilität hervor und lassen selbst auf den höheren Ebenen der Regierung Zweifel aufkommen.

Es ist klar, daß jede «Rückkehr zu Marx» wesentlich eine Rückkehr zu Marx’ Analyse des Kapitalismus und zu deren Platz in der historischen Evolution der Menschheit ist – eingeschlossen vor allem seine Analyse der zentralen Instabilität der kapitalistischen Entwicklung, die durch von ihr selbst hervorgebrachte periodische Wirtschaftskrisen voranschreitet. Kein Marxist konnte auch nur für einen Moment wähnen, daß der liberale Kapitalismus sich selbst für immer etabliert hätte – wie neoliberale Ideologen 1989 behaupteten –, daß die Geschichte zu einem Ende gekommen sei, oder daß tatsächlich irgendein System menschlicher Verhältnisse jemals abschließend und endgültig sein könnte.

Wenn die politischen und intellektuellen Kräfte der internationalen Linken auf die Ideen von Marx verzichteten, würden sie dann einen grundlegenden Leitfaden für die Prüfung und Transformation der heutigen Realität verlieren?

Kein Sozialist kann auf die Ideen von Marx verzichten, da seine Überzeugung, daß auf den Kapitalismus eine andere Form der Gesellschaft folgen muß, nicht auf Hoffnung oder Willen beruht, sondern auf einer ernsthaften Analyse der historischen Entwicklung, besonders in der kapitalistischen Ära. Seine aktuelle Vorhersage, daß der Kapitalismus durch ein gesellschaftlich geleitetes und geplantes System ersetzt werden wird, erscheint immer noch begründet, auch wenn er sicherlich die Marktelemente unterschätzte, die in jedem nach-kapitalistischem System überleben würden. Da er sich sehr bewußt jeder Spekulation über die Zukunft enthielt, kann er nicht für die besonderen Methoden verantwortlich gemacht werden, mit denen «sozialistische» Wirtschaften im «real existierendem Sozialismus» organisiert wurden. Was die Ziele des Sozialismus angeht, war Marx nicht der einzige Denker, der eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Entfremdung wollte, in der alle menschlichen Wesen ihre Fähigkeiten entfalten können, aber er drückte dieses Bestreben kraftvoller aus als irgendein anderer, und seine Worte haben noch immer die Kraft zu begeistern.

Marx wird jedoch nicht als ein politischer Anreger der Linken zurückkehren, bevor nicht verstanden wird, daß seine Schriften nicht als autoritative oder anderweitige politische Programme behandelt werden sollten, auch nicht als Beschreibungen der aktuellen Situation des heutigen Weltkapitalismus, sondern eher als Leitfäden zu seiner Art, die Natur der kapitalistischen Entwicklung zu begreifen. Wir können und sollten auch nicht vergessen, daß er nicht dazu kam, eine zusammenhängende und völlig durchdachte Vorstellung seiner Ideen zu liefern – trotz der Versuche von Engels und anderen, einen Band II und III des «Kapital» aus den Manuskripten von Marx zu konstruieren. Wie die «Grundrisse» zeigen, hätte selbst ein vollständiges «Kapital» nur einen Teil von Marx’ eigenem, vielleicht ausufernd ehrgeizigem Plan dargestellt.

Auf der anderen Seite wird Marx für die Linke nicht an Bedeutung gewinnen, bevor nicht die gegenwärtige Tendenz bei radikalen Aktivisten, Antikapitalismus in Antiglobalismus zu wenden, zu einem Ende kommt. Die Globalisierung gibt es und sie ist – falls es nicht zu einem Kollaps der menschlichen Gesellschaft kommt – irreversibel. Marx erkannte sie in der Tat als Faktum an und – als Internationalist – begrüßte er sie im Prinzip. Was er kritisierte und was wir kritisieren müssen, war die Art der Globalisierung, die der Kapitalismus produzierte.

Im Vorwort zu dem von mir herausgegebenen Sammelband über die «Grundrisse» von 1857/1858 (siehe unten) halten Sie fest, daß diese «Analysen und Einsichten enthalten, z. B. über Technologie, die Marx’ Untersuchung des Kapitalismus weit über das 19. Jahrhundert hinausheben, in eine Gesellschaftsära, in der Produktion nicht länger Massenarbeit erfordert, einer Ära der Automation, des Potentials von Freizeit, und der Transformation von Entfremdung unter solchen Umständen. Es ist der einzige Text, der etwas über Marx’ eigene Bemerkungen zur kommunistischen Zukunft in der ›Deutschen Ideologie‹ hinausgeht. Kurz gesagt, er wurde richtig beschrieben als Marx’ Denken in seiner reichsten Form.» Daher: Was könnte das Ergebnis einer neuen Lektüre der «Grundrisse» heute sein?

Es gibt wahrscheinlich nicht mehr als eine Handvoll Herausgeber und Übersetzer, die komplette Kenntnis von dieser gewaltigen und offenkundig schwierigen Textmasse haben. Aber eine Wiederlektüre oder besser eine heutige Lektüre könnte uns helfen, Marx neu zu durchdenken: Zu unterscheiden, was das Allgemeine in Marx’ Analyse des Kapitalismus ist und was das Spezifische in der Situation einer «bürgerlichen Gesellschaft» Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir können nicht vorhersagen, welche Schlußfolgerungen aus dieser Untersuchung möglich und wahrscheinlich sind, nur, daß sie sicherlich nicht einmütige Zustimmung finden werden.

Warum ist es heute wichtig, Marx zu lesen?

Jedem, der an Ideen interessiert ist, ob Universitätsstudent oder nicht, ist offenkundig klar, daß Marx einer der größten philosophischen Köpfe und ökonomischen Analytiker des 19. Jahrhunderts war und es bleiben wird, sowie – in den besten Passagen – der Autor einer leidenschaftlichen Prosa. Es ist außerdem wichtig, Marx zu lesen, weil die Welt, in der wir heute leben, nicht verstanden werden kann ohne den Einfluß, den die Schriften dieses Mannes auf das 20. Jahrhundert hatten. Und schließlich sollte er gelesen werden, weil – wie er selbst schrieb, die Welt nicht verändert werden kann, wenn man sie nicht verstanden hat – und Marx’ Schriften bleiben ein überragender Leitfaden zum Verständnis der Welt und der Probleme, denen wir entgegentreten müssen.

Übersetzung aus dem Englischen: Arnold Schölzel

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Reviews

Frieder Otto Wolf, Das Argument, 2007

In sechs Abteilungen geht dieses Buch über Derridas These vom unvertreibbaren >Gespenst< hinaus, indem es dessen Spuren so kompetent nachgeht, dass es ein ^Heute für Marx^^ in Anspruch nehmen kann.

Nachdem herausgearbeitet wurde, was die MEGA² für ein zeitgenössisches Verständnis des Marxschen Werkes bedeutet (Manfred Neuhaus, Gerald Hubmann, Izumi Omura und Malcolm Sylvers, 31-115), stellt sich ein zweiter Abschnitt den beiden großen Lücken der marxistischen Tradition, der unausgearbeiteten ^Kritik der Philosophie^^ und dem für das Projekt eingreifender Theorie besonders gravierenden Fehlen einer ^Kritik der Politik^^ (Mario Cingoli, Peter Thomas, Giuseppe Cacciatore, Marcello Musto, Gianfranco Borrelli und Stathis Kouvelakis, 117-207).

Der folgende Abschnitt stellt wichtige Neulektüren zusammen, die das Kapital seit den 1960er Jahren erfahren hat (leider mit Ausnahme der sog. ^neuen Marxlektüre^^ im Gefolge der Frankfurter Schule in Deutschland, der Kapitallektüre der japanischen Uno-Schule und der ^überdeterministischen^^ Kapitallektüre um Rick Wolff in Amherst, Mass. — immerhin mit Beiträgen von Roberto Finelli, Geert Reuten, Christopher J. Arthur, Riccardo Bellofiore, Enrique Dussel, Jacques Bidet und Wolfgang Fritz Haug, 209-304). Der abschließende Abschnitt wird von einem fulminanten Beitrag von Michael Krätke über die Unersetzlichkeit von Marx bei der Erneuerung der politischen Ökonomie eröffnet (307-24); es folgen Beiträge von André Tosel (325-34) und Domenico Jervolino (335-46) zum Konzept eines >Kommunismus der Endlichkeit<. Domenico Losurdo (347-62) stellt sich der Problematik >der fehlenden Revolution im Westen< (347) und setzt — im Rückgriff auf Marx und Rosa Luxemburg — der etwa von Mill und Mises vertretenen >harmonistischen Sicht< der >Globalisierung< (353) eine Reflexion der mit ihr untrennbar verbundenen >geopolitischen Konflikte< entgegen (353f). Angesichts des >Menschenrechtsimperialismus< der USA, der an die Stelle des >britischen Freihandelsimperialismus< getreten sei (359), kritisiert er eine >imperiale Linke<, die etwa >im Namen der ^Menschenrechte^^ Sanktionen gegen China< fordert — Anzeichen einer >schrecklichen theoretischen und politischen Regression< (360).

Die hiermit umrissene Darstellung wird ergänzt durch mehrere ^Länderstudien^^: Gian Mario Bravo umreißt die ^sozialdemokratische^^ Frühgeschichte des Marxismus in Italien (97-115), Wei Xiaoping den Stand der Marxforschung in China (379-86), und Alex Callinicos gibt einen Überblick über den ^angelsächsischen Marxismus^^ seit den 1930er Jahren (363-78); im Zentrum stehen dabei der >Aufstieg und Fall des analytischen Marxismus< (369ff) sowie die seit den 1960er Jahren erfolgte Schwerpunktverlagerung in die USA (372ff). Die Frage, ob es gelingen wird, mit der ^dritten Welle^^ der Radikalisierung (nach den 1930er und den 1960er Jahren), die er durch die Proteste von Seattle und Genf im Jahre 1999 angezeigt sieht, wieder >einen produktiven Dialog zwischen marxistischer Theorie und antikapitalistischer Praxis< (376) anzuknüpfen, beantwortet er indirekt mit der Forderung, dem >Akademismus< zu entkommen (377). — Russland und Osteuropa kommen nicht vor. Eine westeuropäische Perspektive überwiegt — auch wenn Fenster auf die ^angelsächsisch^^ geprägte ^Weltphilosophie^^ und auf China als eine neu entstehende, auch wissenschaftliche und philosophische Weltmacht geöffnet werden.

Insgesamt vollzieht sich in diesem Band Marx’ Zurückmeldung als ^Klassiker neuen Typs^^, der zeitgenössisches, in erster Linie philosophisches und politisches Denken inspiriert. Den Beiträgen gelingt es, sich von dogmatischen Denklinien zu lösen und marxistisches Denken zu erneuern. Einige exemplarische offene Fragen können deutlich machen, dass hiermit ein theoretischer Neubeginn möglich geworden ist. Zunächst zur Reflexion des Stellenwertes der MEGA²: Können Philologische Gründlichkeit und prozessualer Werkbegriff, wie sie hier der neuen Marxforschung verordnet werden, wirklich als >ein neuer post-ideologischer Zugang< (65) begriffen werden? Wie hilfreich ist die Bezugnahme auf den Begriff des ^Klassikers^^ (59, 66) über pragmatische Zwecke hinaus? Lässt sich das Bild der ^Baustelle^^ sinnvoll für das Kapital reklamieren — reicht hier die Vorstellung aus, es handele sich >um das glänzende Handbuch einer Problematik mit großem analytischen Potenzial< (66)?

Zur Kritik der Philosophie und der Politik herrscht eine genetische Herangehensweise vor, welche die Frage provoziert, was uns die Auseinandersetzung des ^Marx vor Marx^^ mit dem Materialismus (119ff), das (bemerkenswerte) Konzept der >Fastnachtszeit der Philosophie< (133ff), Marx’ Bad Kreuznacher Demokratiekonzeption von 1843 (145ff), die >entscheidende Entwicklung< (170), die Marx in der damaligen >Hauptstadt der neuen Welt< genommen haben soll (161ff) oder auch seine Schriften zur Politik der Kommunisten zwischen 1843 und 1852 (179ff) nun genau helfen sollen, um Fragen etwa nach der ^Politik des Kapitals^^ bzw. der ^Politik gegen das Kapital^^ zu beantworten. Kouvélakis’ Diskussion des Bürgerkriegs in Frankreich hat dagegen nicht nur den Vorteil, dass hierzu eine bereits entwickelte Debatte vorliegt. Sie behandelt auch klassische Themen der Marxschen ^Revolutionstheorie^^: >permanente Revolution< (195f), die >Zertrümmerung der Staatsmaschinerie< (201) und die Frage nach den von Marx nach dem Scheitern der 48er-Revolution vorgenommenen >Berichtigungen< (206f u.ö.). Aber die Frage, welches Verhältnis sich zwischen seinen politischen Analysen und seiner Kritik der politischen Ökonomie herstellen lässt, erscheint nicht einmal am Horizont der Untersuchung.

Weiter zum Kapital als unvollendeter Kritik: Was bedeutet die ^dialektische Darstellung^^ im Kapital? Lässt sie sich mit dem Konstrukt einer ^Setzung der eigenen Voraussetzungen^^ (211) angemessen begreifen? Was bedeutet ^Begreifen^^, was ^Abstraktion^^ (213) für heutiges Wissenschaftsdenken? Was ist die Rolle des Geldes fürs Kapital (vgl. 234f)? Wie kann eine unvollendete Dialektik bzw. eine unvollendete ^Kritik^^ überhaupt funktionieren — können wir sie als >Rekonstruktion< eines >gegebenen Ganzen< begreifen (239), brauchen wir dafür eine >Ontologie< (242ff)? Was müssen wir heute abstreifen und was ^dazutun^^, um das Kapital wissenschaftlich eindeutig und politisch produktiv lesen zu können (vgl. 281ff)? Wie verhält sich Marx’ eigener Forschungs- und Lernprozess (293ff) zu einer ^systematischen^^ Darstellung seiner Theorie — auf dem damaligen und auf dem heutigen Stand epistemologischer Explikation?

Schließlich zur Frage der aktuellen Bedeutung von Marx: Was bedeutet — angesichts des apolitischen Charakters der Wirtschaftswissenschaften (307) — das epistemologische Konzept der Kritik der politischen Ökonomie (309ff)? Was verbirgt sich hinter dem Begriff eines Kommunismus der Endlichkeit, der >eine andere Idee des Kommunismus auf der Höhe der kapitalistischen Globalisierung< verspricht (325)? Was kann und muss theoretisch geleistet werden, damit neue, politisch bedeutsame Initiativen auf dem Felde der von Marx ausgehenden Theorie nicht in einer sterilen akademischen Betriebsamkeit versanden (377)?

Diese offenen Fragen verlangen nach neuen Untersuchungen, die zu einem anderen Marxismus oder auch zu einem anderen Kommunismus führen können. Aber in diesem Anfang liegt zugleich ein Ende: Eine Generation, die von der Krise des Marxismus gezeichnet ist und zu Zeugen des Zusammenbruchs der Staatenformation wurde, die sich als reale Verkörperung marxistischer Politik dargestellt hatte, legt hier Ergebnisse ihrer Anstrengungen vor, Pfade aus dieser Krise zu finden. Das gibt dieser Kongressdokumentation den Charakter eines Handbuchs, Ausgangsbasis für das weitere Arbeiten. Die Übersetzung in alle Weltsprachen ist zu wünschen (eine spanischsprachige Ausgabe erscheint demnächst in Mexiko).

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Marx in Paris

I. PARIS: Hauptstadt der neuen Welt
Paris ist ein «wunderbare[s] Ungeheuer, eine erstaunliche Verschlingung von Regungen, Maschinen und Gedanken, die Stadt der hunderttausend Romane, das Haupt der Welt»[1]. So beschrieb Balzac in einer seiner Erzählungen die Wirkung der französischen Hauptstadt auf alle, die sie nicht genau kannten.

In den Jahren vor der 1848er-Revolution war die Stadt bewohnt von Handwerkern und Arbeitern in ständigem politischem Aufruhr, Emigrantenkolonien, Revolutionären, Schriftstellern und Künstlern aus verschiedenen Ländern, und die soziale Gärung hatte eine Intensität erreicht, wie sie in wenigen anderen historischen Zeiten begegnet. Frauen und Männer mit unterschiedlichster geistiger Begabung publizierten Bücher, Zeitschriften und Journale, schrieben Gedichte, ergriffen in Versammlungen das Wort, diskutierten pausenlos in Cafés, auf der Straße, bei öffentlichen Banketten. Sie lebten an demselben Ort und beeinflussten sich wechselseitig [2].

Bakunin hatte beschlossen, ‘den Fuß über den Rhein zu setzen’, um «mit Einem Schlage mitten in den neuen Elementen [zu stehn], die in Deutschland noch gar nicht geboren sind. [Darunter in erster Linie] die Ausbreitung des politischen Denkens in alle Kreise der Gesellschaft» [3]. Von Stein meinte: «im Peuple selbst hatte ein eigenthümliches Leben begonnen, das neue Verbindungen erzeugte, auf neue Revolutionen sann» [4]. Ruge stellte fest: «Unsre Siege und unsre Niederlagen erleben wir in Paris» [5].

Paris war mit anderen Worten der Ort, an dem man sich in jenem präzisen historischen Moment aufhalten musste. Balzac bemerkte weiter: «kurz, die Pariser Straßen haben menschliche Eigenschaften und erregen durch ihr Aussehen bestimmte Vorstellungen in uns, gegen die wir nicht ankönnen»[6]. Viele dieser Vorstellungen machten auch auf Karl Marx großen Eindruck, der, fünfundzwanzigjährig, im Oktober 1843 in die Stadt gelangt war. Sie prägten seine intellektuelle Entwicklung zutiefst, die gerade während des Paris-Aufenthalts eine entscheidende Reifung durchmachte.

In die theoretische Offenheit, mit der Marx nach der journalistischen Erfahrung bei der Rheinischen Zeitung und nach seiner Abkehr vom Begriffshorizont von Hegels vernünftigem Staat und vom demokratischen Radikalismus nach Paris kam [7], traf die konkrete Begegnung mit dem Proletariat. Die Ungewissheit, die aus der schwierigen Atmosphäre der Zeit erwuchs, in der sich rasch eine neue sozialökonomische Wirklichkeit konsolidierte, schwand im Kontakt mit der Pariser Arbeiterklasse und ihren Arbeits- und Lebensbedingungen, mit denen Marx auf theoretischer Ebene wie in der Lebenserfahrung in Berührung kam.

Die Entdeckung des Proletariats und somit der Revolution; die Bejahung des Kommunismus, wenngleich noch in unbestimmter, halbutopischer Form; die Kritik an Hegels spekulativer Philosophie und an der hegelschen Linken; der erste Entwurf der materialistischen Geschichtsauffassung und die Anfänge einer Kritik der politischen Ökonomie – dies sind die Grundthemen, die Marx in jener Zeit entwickelte. In den nachstehenden Ausführungen werden die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte] [8], die während seines Paris-Aufenthalts entstanden, mit Blick auf die mit ihnen verknüpften philologischen Fragen untersucht, während die kritische Interpretation seiner berühmten Jugendschrift gewollt ausgespart wird.

II. DER WEG ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE
Schon während der Mitarbeit an der «Rheinischen Zeitung» hatte Marx sich mit einzelnen ökonomischen Fragen befasst, wenngleich stets vom juristischen und politischen Standpunkt. Daraufhin gelangte er in den 1843 in Kreuznach entwickelten Gedanken, aus denen das Manuskript [Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie] hervorging, zur ersten Formulierung der Relevanz des ökonomischen Faktors in den gesellschaftlichen Verhältnissen, denn er hatte die bürgerliche Gesellschaft in der Schrift als reale Basis des politischen Staats konzipiert [9]. Doch erst in Paris nahm er ein «gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie» [10] in Angriff, getrieben von der Widersprüchlichkeit des Rechts und der Politik, die in deren Bereich nicht lösbar waren, das heißt von der Unfähigkeit beider, Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme zu geben. Entscheidenden Einfluss hatten dabei die Betrachtungen, die Engels in den Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie, einem der beiden im ersten und einzigen Band der «Deutsch-französischen Jahrbücher» von ihm erschienenen Artikel, angestellt hatte. Von diesem Moment an richteten sich Marx’ vorwiegend philosophische, politische und historische Untersuchungen auf diese neue Disziplin, die der Brennpunkt seiner wissenschaftlichen Untersuchungen und Bemühungen wurde. Er steckte damit einen neuen Horizont ab, von dem er sich nie wieder abwenden wird [11].

Unter dem Einfluss von Über das Geldwesen von Hess, der den Begriff der Entfremdung von der spekulativen auf die sozioökonomische Ebene übertragen hatte, konzentrierten sich die entsprechenden Analysen in einer ersten Phase auf die Kritik der Vermittlung des Geldes, die der Verwirklichung des menschlichen Wesens entgegenstand. In der Polemik gegen Bruno Bauers Zur Judenfrage betrachtet Marx jene Vermittlung als gesellschaftliches Problem, das die philosophische und historisch-soziale Voraussetzung der gesamten kapitalistischen Zivilisation darstellt. Der Jude ist Metapher und historische Avantgarde der Beziehungen, die diese hervorbringt, seine weltliche Figur wird Synonym für den Kapitalisten tout court [12].

Kurz darauf weihte Marx das neue Studienfeld mit einer großen Menge von Lektüren und kritischen Aufzeichnungen ein, die er, wie wir weiter unten genauer ausführen werden, abwechselnd in den Manuskripten und Exzerptheften niederschrieb, die er gewöhnlich zu den von ihm gelesenen Texten angelegte. Den Leitfaden seiner Arbeit bildete das Bedürfnis, die größte Mystifizierung der politischen Ökonomie – die These, wonach ihre Kategorien allezeit und allerorts gültig seien – als solche sichtbar zu machen und anzufechten. Marx war zutiefst betroffen von der Blindheit der Ökonomen, ihrem Mangel an historischem Sinn, denn in Wahrheit suchten sie dergestalt die Unmenschlichkeit der ökonomischen Bedingungen der Zeit im Namen ihrer Natürlichkeit zu verhüllen und zu rechtfertigen. Im Kommentar zu einem Text von Say merkte er an:

«Privateigenthum ist ein factum, dessen Begründung die Nationalökonomie nichts angeht, welches aber ihre Grundlage bildet. […] Die ganze Nationalökonomie beruht also auf einem factum ohne Nothwendigkeit» [13]. Ähnlich äußerte er sich in den [Ökonomisch-philosophischen Manuskripten], in denen er unterstrich: «Die Nationalökonomie geht vom Faktum des Privateigentums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht» [14]. «Er [der Nationalökonom] unterstellt in der Form der Tatsache, des Ereignisses, was er deduzieren soll» [15].

Die politische Ökonomie betrachtet die Ordnung des Privateigentums, die mit ihr verknüpfte Produktionsweise und die entsprechenden ökonomischen Kategorien folglich als unwandelbar und ewig gültig. Der Mensch als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft erscheint als natürlicher Mensch. «Wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben» [16], kommentiert Marx, der diese Ontologie des Tausches mit aller denkbaren Schärfe ablehnte.

Gestützt auf mancherlei gründliche historische Untersuchungen, die ihm einen ersten Interpretationsschlüssel für die zeitliche Entwicklung der Gesellschaftsstrukturen geliefert hatten, und unter Aneignung derjenigen Einsichten Proudhons, die er für die treffendsten hielt, nämlich dessen Kritik an der Vorstellung vom Eigentum als Naturrecht, gewann Marx stattdessen die zentrale Einsicht von der Vorläufigkeit der Geschichte. Die bürgerlichen Ökonomen hatten die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft präsentiert. Marx dagegen machte die spezifische Natur der Verhältnisse seiner Zeit, «[d]ie zerrißne Wirklichkeit der Industrie» [17], zu seinem ausschließlichen und spezifischen Untersuchungsgegenstand, unterstrich deren Vorläufigkeit, ihren Charakter eines historisch gewordenen Stadiums und machte sich an die Suche nach den Widersprüchen, die der Kapitalismus hervorruft und die zu seiner Überwindung führen.

Diese andere Auffassungsweise der gesellschaftlichen Verhältnisse hatte wichtige Folgen, worunter die auf den Begriff der entfremdeten Arbeit bezogene fraglos die bedeutsamste war. Im Gegensatz zu den Ökonomen, wie auch zu Hegel, die sie als natürliche, unwandelbare Bedingung der Gesellschaft begriffen, ging Marx einen Weg, in dessen Verlauf er die anthropologische Dimension der Entfremdung zurückwies und eine sozialhistorisch begründete Auffassung an ihre Stelle setzte, welche das Phänomen auf eine bestimmte Struktur der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zurückführte: auf die menschliche Entfremdung unter den Bedingungen der Industriearbeit.

Die begleitenden Aufzeichnungen zu den Exzerpten aus James Mill verdeutlichen, «wie die Nationalökonomie die entfremdete Form des geselligen Verkehrs als die wesentliche und ursprüngliche und der menschlichen Bestimmung entsprechende fixirt» [18]. Alles andere als eine konstante Bedingung der Vergegenständlichung, der Produktion des Arbeiters, ist die entfremdete Arbeit für Marx Ausdruck der Gesellschaftlichkeit der Arbeit innerhalb der bestehenden Ordnung, der Arbeitsteilung, die den Menschen als «eine Drehmaschine» betrachtet, ihn «bis zur geistigen und physischen Mißgeburt […] umwandelt» [19].

In der Arbeitstätigkeit tritt die Besonderheit des Individuums zutage, es ist die Verwirklichung eines notwendigen Bedürfnisses, indes: «Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters» [20]. Eigentlich wäre die Arbeit Selbstverwirklichung des Menschen, freie schöpferische Tätigkeit, «unter der Voraussetzung des Privateigenthums ist meine Individualität bis zu dem Punkte entäussert, daß diese Thätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Thätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Thätigkeit und nur durch eine äusserliche zufällige Noth […] auferlegt ist» [21].

Marx gelangte zu diesen Schlüssen, indem er die geltenden Theorien der Wirtschaftswissenschaft sammelte, sie in ihren Bestandteilen kritisierte und ihre Ergebnisse umkehrte. Er widmete sich dieser Aufgabe mit intensivem, rastlosem Einsatz. Der Marx der Pariser Zeit ist ein lesehungriger Marx, der den Lektüren Tag und Nacht widmete. Es ist ein Marx voller Enthusiasmus und Projekte, der so umfängliche Arbeitspläne entwarf, dass er sie nie zu Ende führen konnte, der jedes seine jeweilige Frage betreffende Dokument studierte, um dann vom raschen Fortschritt seiner Erkenntnisse und den sich ändernden Interessen absorbiert zu werden, die ihn regelmäßig zu neuen Horizonten, neuen Vorsätzen und weiteren Untersuchungen führten [22].

Am linken Seine-Ufer plante er, eine Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie zu verfassen, führte Studien zur Französischen Revolution durch, um eine Geschichte des Konvents zu schreiben, fasste eine Kritik der bestehenden sozialistischen und kommunistischen Lehren ins Auge. Dann stürzte er sich wie besessen ins Studium der politischen Ökonomie, das er plötzlich unterbrach, gepackt von dem vorrangigen Anliegen, das Terrain in Deutschland endgültig von der transzendenten Kritik von Bauer und Konsorten zu befreien, und schrieb sein erstes Werk:Die heilige Familie. Weitere tausend Vorsätze schlossen sich an.

Was immer es zu kritisieren gab, es ging durch seinen Kopf und seine Feder. Und doch war der schaffensfreudigste junge Mann der hegelschen Linken auch derjenige, der weniger publiziert hat, als viele andere. Die Unvollendetheit, die sein gesamtes Werk kennzeichnen wird, prägte bereits seine Arbeiten in dem Jahr in Paris. Seine Gewissenhaftigkeit war schier unglaublich. Er weigerte sich, einen Satz zu schreiben, wenn er ihn nicht auf zehn verschiedene Arten beweisen konnte [23]. Die Überzeugung, seine Informationen seien unzureichend, seine Bewertungen verfrüht, hinderte ihn in den meisten Fällen daran, seine Arbeiten in Druck zu geben, die somit Entwürfe, Fragmente blieben [24]. Seine Aufzeichnungen sind deshalb von unschätzbarem Wert. Sie lassen die Weitläufigkeit seiner Untersuchungen ermessen, geben einige seiner Reflexionen wieder und sind als integraler Bestandteil seines Werkes zu werten. Dies gilt auch für die Pariser Zeit, deren Manuskripte und Lektüreaufzeichnungen von der untrennbaren Verbindung zwischen Schriften und Notizen zeugen [25].

III. MANUSKRIPTE UND EXZERPTHEFTE: DIE PAPIERE VON 1844
Ihrer Unvollendetheit und der sie kennzeichnenden fragmentarischen Form zum Trotz wurden die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte] aus dem Jahre 1844 fast immer unter weitgehender Missachtung der mit ihnen verknüpften philologischen Probleme gelesen, die man entweder ganz übersah oder für wenig wichtig hielt [26]. Erst 1932 wurden sie erstmals integral veröffentlicht, und obendrein in zwei verschiedenen Ausgaben. In dem von den sozialdemokratischen Wissenschaftlern Landshut und Mayer besorgten Sammelband Der historische Materialismus erschienen sie unter dem Titel «Nationalökonomie und Philosophie»[27], in derMarx Engels Gesamtausgabe dagegen als «Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844» [28]. Nicht nur dem Titel nach unterschieden sich die beiden Publikationen, sondern auch inhaltlich und hinsichtlich der Reihenfolge der verschiedenen Teile, die sogar sehr große Differenzen aufwies. In der erstgenannten Ausgabe, die aufgrund der ungenauen Entzifferung des Originals von Fehlern strotzte, fehlte die erste Gruppe von Blättern, das sogenannte erste Manuskript, und irrtümlicherweise wurde ein viertes Manuskript, bei dem es sich in Wahrheit um eine Zusammenfassung des Schlusskapitels von Hegels Phänomenologie des Geistes handelt, Marx selber zugeschrieben [29].

Doch wurde bislang zu wenig beachtet, dass auch die Herausgeber der ersten MEGA dadurch, dass sie den Manuskripten einen Namen gaben, das Vorwort an den Anfang stellten – in Wirklichkeit steht es im dritten Manuskript – und sie insgesamt neu ordneten, glauben machten, Marx habe von Anfang an beabsichtigt, eine Kritik der politischen Ökonomie zu schreiben, und das Ganze sei ursprünglich in Kapitel unterteilt gewesen [30].

Außerdem war man allgemein von der unzutreffenden Vorstellung ausgegangen, Marx habe jene Texte erst geschrieben, nachdem er die Werke der politischen Ökonomie gelesen und zusammengefasst hatte [31], während sich im Schreibprozess in Wahrheit Manuskripte und Exzerpte abwechselten und letztere sogar die gesamte Pariser Produktion, von den Beiträgen für die «Deutsch-französischen Jahrbücher» bis zur Heiligen Familie, begleiteten.

Trotz ihrer offensichtlich problematischen Form, der Verwirrung, die die verschiedenen in Druck gegebenen Versionen gestiftet hatten, und des Bewusstseins, dass ein Großteil des zweiten, wichtigsten und leider verloren gegangenen Manuskripts fehlte, widmete sich keiner der Interpreten, Kritiker und Herausgeber neuer Editionen der erneuten Prüfung der Originale, die doch dringend notwendig war für einen Text, der in der Debatte zwischen den unterschiedlichen kritischen Marx-Interpretationen so schwer wog.

Die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte] entstanden zwischen Mai und August und können nicht als kohärentes, vorherbestimmtes und systematisch verfasstes Werk gelten. Die zahlreichen Interpretationen, die ihnen den Charakter einer fertigen Einstellung zuschrieben, sei es, dass sie die Vollendetheit von Marx’ Denken an ihnen hervorhoben, sei es, dass sie sie als Ausdruck einer bestimmten Auffassung im Gegensatz zu derjenigen der wissenschaftlichen Reife begriffen [32], werden durch die philologische Analyse widerlegt. Heterogen und weit davon entfernt, einen engen Zusammenhang zwischen den Teilen aufzuweisen, sind sie der offenkundige Ausdruck einer in Bewegung begriffenen Position. Die Art der Aneignung und Verwendung der Lektüren, aus denen Marx’ Denken sich speiste, lässt sich anhand der neun überlieferten Hefte mit über 200 Seiten Exzerpten und Kommentaren zeigen [33].

Die Pariser Hefte bewahren die Spuren von Marx’ Begegnung mit der politischen Ökonomie, ebenso wie die Entstehungsspuren seiner frühesten Ausarbeitungen einer ökonomischen Theorie. Aus dem Vergleich dieser Hefte mit den zeitgleichen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften geht die Bedeutung der Lektüren für die Entwicklung seiner Gedanken deutlich hervor [34]. Marx fertigte – um die Aufzählung auf die Autoren der politischen Ökonomie zu beschränken – Exzerpte aus Texten von Say, Schütz, List, Osiander, Smith, Skarbek, Ricardo, James Mill, MacCulloch, Prevost, Destutt de Tracy, Buret, de Boisguillebert, Law und Lauderdale an [35]. Außerdem nahm er in den [Ökonomisch-philosophischen Manuskripten], in den Artikeln und der Korrespondenz der Zeit auf Proudhon, Schulz, Pecquer, Loudon, Sismondi, Ganihl, Chevalier, Malthus, de Pompery und Bentham Bezug.

Die ersten Exzerpte aus dem Traité d’économie politique von Say, aus dem er ganze Teile herausschrieb, machte Marx, während er sich Grundkenntnisse der Ökonomie aneignete. Die einzige eigene Betrachtung wurde nachträglich hinzugefügt und steht auf der rechten Seite des Blattes, der er diese Funktion gewöhnlich vorbehielt. Auch mit den Zusammenfassungen aus den Recherches sur la nature et les causes de la richesse des nations von Smith, die zeitlich später entstanden, verfolgte er dasselbe Ziel, sich ökonomische Grundbegriffe zu erarbeiten. Obwohl es sich um die längsten Exzerpte handelt, findet sich in der Tat darin kaum ein Kommentar. Dennoch wird Marx’ Denken durch die Montage der Passagen und die oft auch andernorts von ihm angewandte Technik der Gegenüberstellung von divergierenden Thesen verschiedener Ökonomen klar. Von anderer Art sind dagegen die Exzerpte aus Des principes de l’économie politique et de l’impôt von Ricardo, in denen seine ersten Betrachtungen auftauchen.

Sie konzentrieren sich auf die Begriffe Wert und Preis, die er damals noch als gleichbedeutend fasste. Diese Gleichsetzung von Warenwert und Preisen entsprang der ursprünglichen Konzeption von Marx, wonach nur der durch den Wettbewerb erzeugte Tauschwert Wirklichkeit besaß, während er den natürlichen Preis als bloßes Hirngespinst ins Reich der Abstraktion verwies. Mit dem Fortgang seiner Studien tauchen derlei kritische Anmerkungen nicht mehr sporadisch auf, sondern wechseln mit den Zusammenfassungen der Werke ab, und mit fortschreitender Kenntnis, von Autor zu Autor, werden es immer mehr. Einzelne Sätze, dann breitere Ausführungen, bis sich das Verhältnis schließlich umkehrt, nachdem er sich im Zusammenhang mit den Éléments d’économie politique von James Mill auf die Kritik der Vermittlung des Geldes als völlige Herrschaft des entfremdeten Gegenstands über den Menschen konzentriert hat, und seine Texte nicht mehr die Exzerpte durchsetzen, sondern das genaue Gegenteil geschieht.

Auch ein Hinweis auf die weitere Verwendung jener Aufzeichnungen – zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wie in späterer Zeit – erscheint nützlich, um die Bedeutung der Exzerpte zu veranschaulichen. Ein Teil von ihnen wurde 1844 im «Vorwärts!», der Zweiwochenschrift der deutschen Emigranten in Paris, publiziert, um zur intellektuellen Bildung der Leser beizutragen [36]. Da sie sehr erschöpfend waren, wurden sie aber von Marx, der die Gewohnheit besaß, seine Aufzeichnungen nach einiger Zeit erneut durchzulesen, vor allem in den ökonomischen Manuskripten von 1857-58, besser bekannt als [Grundrisse], in denen von 1861-63 und im ersten Buch des Kapitals weiterverwendet.

Marx entwickelte seine Gedanken also sowohl in den [Ökonomisch-philosophischen Manuskripten] wie in den Exzerptheften zu seinen Lektüren. Die Manuskripte sind voller Zitate, das erste ist fast eine Zitatsammlung, und die Hefte mit seinen Zusammenfassungen sind, obgleich stärker auf die gelesenen Texte konzentriert, mit seinen Kommentaren versehen. Der Inhalt beider, ebenso wie die Schreibmodalitäten – gekennzeichnet durch die Unterteilung der Blätter in Spalten –, die Seitennumerierung und der Zeitpunkt der Abfassung belegen, dass die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte] kein für sich stehendes Werk [37], sondern Teil seiner kritischen Produktion sind, welche in jener Zeit Exzerpte aus den von ihm studierten Texten, diesbezügliche kritische Überlegungen und Ausarbeitungen umfasst, die er ad hoc oder in durchdachterer Form zu Papier brachte. Die Manuskripte vom Rest zu trennen, sie aus ihrem Zusammenhang zu reißen, kann somit zu Interpretationsfehlern führen.

Nur die Gesamtheit all dieser Aufzeichnungen, zusammen mit der historischen Rekonstruktion ihrer Entstehung, verdeutlicht tatsächlich den Weg und die Komplexität seines kritischen Denkens während des intensiven Arbeitsjahrs in Paris [38].

IV. KRITIK DER PHILOSOPHIE UND KRITIK DER POLITIK
Der äußere Rahmen, in dem Marxens Ideen fortschritten, und der Einfluss, den er in theoretischer wie praktischer Hinsicht auf ihn hatte, verdienen eine weitere kurze Überlegung. Geprägt war er durch eine tief greifende sozioökonomische Transformation und vor allem durch die große Expansion des Proletariats. Mit der Entdeckung des Proletariats konnte Marx den hegelschen Begriff des bürgerlichen Staats in Klassenbegriffen zerlegen. Er erlangte zudem das Bewusstsein, dass das Proletariat eine neue Klasse war, die sich von den Armen unterschied, weil ihr Elend aus ihren Arbeitsbedingungen entsprang. Es handelte sich um die Demonstration eines Hauptwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft: «Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt» [39].

Der schlesische Weberaufstand im Juni jenes Jahres bot Marx eine weitere Gelegenheit für die Entwicklung seiner Orientierung. In den Kritischen Randglossen zu dem Artikel “Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, die im «Vorwärts!» erschienen, ging er über die Kritik an Ruge und an einem vorher publizierten Artikel von ihm, worin jenem Kampf Mangel an politischem Geist angelastet wird, auf Distanz zur hegelschen Auffassung, die im Staat den einzigen Vertreter des allgemeinen Interesses sah und jede Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft in den Bereich der Partialität und der Privatsphäre verwies [40]. Für Marx dagegen befindet sich «eine sociale Revolution […] auf dem Standpunkt des Ganzen» [41], und unter dem Eindruck jenes ausdrücklich revolutionären Ereignisses unterstrich er die Verblendung jener, die den Grund der sozialen Probleme «nicht im Wesen des Staats, sondern in einer bestimmten Staatsform» [42] suchten.

Überhaupt hielt er das Ziel der sozialistischen Lehren, die Reform der Gesellschaft, Lohngleichheit und eine neue Arbeitsorganisation innerhalb der kapitalistischen Ordnung für Vorschläge von Leuten, die noch Gefangene der von ihnen selbst bekämpften Voraussetzungen blieben (Proudhon) und die vor allem die wahre Beziehung zwischen Privateigentum und entäußerter Arbeit nicht verstanden. Es zeige sich, dass, «wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist» [43]. «Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit» [44]. Den sozialistischen Theorien setzte Marx den Plan zu einer radikalen Transformation des Wirtschaftssystems entgegen, demzufolge «das Kapital, […] “als solches” aufzuheben ist» [45].

Je näher jene Lehren seinem Denken standen, desto schärfer wurde seine Kritik, gestärkt durch das Bedürfnis, Klarheit zu schaffen. Die Ausarbeitung seiner Konzeption trieb ihn zum fortwährenden Vergleich zwischen den Ideen, die ihn umgaben, und den Ergebnissen seiner voranschreitenden Studien. Es war der rasche Gang seiner geistigen Reifung, der ihn dazu zwang. Das gleiche Los wie andere Lehren traf auch die hegelsche Linke. Die Urteile über ihre Vertreter waren sogar besonders streng, weil sie auch Selbstkritik an der eigenen Vergangenheit waren. In der «Allgemeinen Literatur-Zeitung», der von Bruno Bauer herausgegebenen Monatsschrift, wurde ein für alle Mal gefordert: «So entbehrt der Kritiker aller Freuden der Gesellschaft; aber auch ihre Leiden bleiben ihm fern […] er throne in der Einsamkeit» [46]. Für Marx dagegen ist «die Kritik keine Leidenschaft des Kopfs […]. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. […] Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel» [47].

Entgegen dem Solipsismus der «kritischen Kritik» [48], die von der abstrakten Überzeugung ausging, wonach eine Entfremdung allein dadurch, dass man sie erkannte, auch schon überwunden sei, stand ihm klar vor Augen, dass «die materielle Gewalt […] gestürzt werden [muß] durch materielle Gewalt» [49] und das gesellschaftliche Sein nur durch die menschliche Praxis verändert werden kann. Die Entfremdung des Menschen zu entdecken, sich ihrer bewusst zu werden, musste gleichzeitig bedeuten, für ihre tatsächliche Aufhebung zu wirken. Es lässt sich kein größerer Abstand denken als der zwischen einer Philosophie, die sich in der spekulativen Isolierung verschloss und bloß fruchtlose Begriffsschlachten hervorbrachte, und seiner Kritik, die «im Handgemenge» ist [50]. Es ist derselbe Abstand, der die Suche nach der Freiheit des Selbstbewusstseins von der Suche nach der Freiheit der Arbeit trennt.

V. SCHLUSSFOLGERUNGEN
Marx’ Denken machte in dem zentralen Jahr in Paris eine entscheidende Entwicklung durch. Er war sich nunmehr gewiss, dass die Transformation der Welt eine praktische Frage war, «welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte» [51]. Von einer Philosophie, die dieses Bewusstsein nicht erlangt und sich nicht in die notwendige Philosophie der Praxis verwandelt hat, nahm er endgültig Abschied. Seine Analyse setzte fortan nicht mehr bei der Kategorie der entfremdeten Arbeit, sondern bei der Realität des Arbeiterelends an. Seine Schlüsse waren nicht spekulativer Art, sondern richteten sich auf das revolutionäre Tun [52].

Auch seine politische Auffassung wandelte sich zutiefst. Er übernahm keine der bestehenden, engstirnigen sozialistischen und kommunistischen Lehren, ging vielmehr zu ihnen auf Abstand und bildete das Bewusstsein heran, dass die ökonomischen Verhältnisse das Bindegewebe der Gesellschaft ausmachen. «Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz» [53]. So büßte der Staat den Vorrang ein, den er in Hegels politischer Philosophie besaß, und wurde, von der Gesellschaft absorbiert, als bestimmte und nicht als bestimmende Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen gedacht: «Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird» [54].

Radikal veränderte sich auch seine Begrifflichkeit im Hinblick auf das revolutionäre Subjekt. Vom anfänglichen Hinweis auf die «leidende Menschheit» [55] gelangte Marx zur Ermittlung des Proletariats. Es wurde zunächst als abstrakter, auf dialektischen Antithesen fußender Begriff, als «passive[s] Element» [56] der Theorie betrachtet, um dann auf der Basis einer ersten sozialökonomischen Analyse zum aktiven Element seiner eigenen Befreiung zu werden, die einzige Klasse, die in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung über revolutionäres Potenzial verfügt.

Schließlich trat an die Stelle der noch vagen Kritik der politischen Vermittlung des Staates und der ökonomischen des Geldes – Hindernissen für die Verwirklichung des Gemeinwesens des Menschen Feuerbach’scher Prägung – die Kritik eines historischen Verhältnisses, die in der materiellen Produktion die Basis für jede Analyse und Transformation der Gegenwart zu skizzieren begann, «weil die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind» [57]. Marx erhob also keine generische Emanzipationsforderung mehr, sondern forderte die radikale Transformation des realen Produktionsprozesses.

Während er zu diesen Schlüssen gelangte, plante er weitere Arbeiten. Nach der Heiligen Familie setzte er seine Studien und Exzerpte zur politischen Ökonomie fort, umriss eine Kritik Stirners, entwarf [Die Entstehungsgeschichte des modernen Staats oder die französische Revolution] [58], machte Notizen zu Hegel, plante eine Kritik des deutschen Ökonomen List, die er kurz darauf realisierte. Er war unermüdlich. Engels drängte ihn, der Welt sein Material zur Verfügung zu stellen, denn «es ist verflucht hohe Zeit» [59], und Marx unterzeichnete vor seiner Ausweisung aus Paris [60] einen Vertrag mit dem Verleger Leske über die Veröffentlichung eines Bandes mit dem Titel «Kritik der Politik und Nationalökonomie» [61]. Doch wird man weitere 15 Jahre warten müssen, bis 1859 ein erster Teil seines Werks Zur Kritik der politischen Ökonomie in Druck gehen wird.

Die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte] und die Exzerpthefte geben den Sinn der ersten Schritte des Unterfangens wieder. Seine Schriften sind voll theoretischer Elemente, die von Vorläufern und Zeitgenossen herrühren. Keiner der Entwürfe und kein Werk jener Zeit lässt sich in eine bestimmte Disziplin einordnen. Es gibt keine rein philosophischen noch wesentlich ökonomische noch ausschließlich politische Schriften. Was aus all dem entspringt, ist kein neues System, kein homogenes Ganzes, sondern eine kritische Theorie.

Der Marx von 1844 besitzt die Fähigkeit, die Erfahrungen der Pariser Proletarierinnen und Proletarier mit Studien zur Französischen Revolution, die Lektüre von Smith mit den Einsichten Proudhons, den schlesischen Weberaufstand mit der Kritik der hegelschen Staatsauffassung, die Analyse des Elends von Buret mit dem Kommunismus zu verbinden. Es ist ein Marx, der diese unterschiedlichen Erkenntnisse und Erfahrungen aufzunehmen weiß und durch ihre Verknüpfung eine revolutionäre Theorie ins Leben ruft.

Sein Denken, namentlich die ökonomischen Überlegungen, die sich während des Paris-Aufenthalts herauszukristallisieren beginnen, sind nicht die Frucht einer plötzlichen Eingebung, sondern das Ergebnis eines Prozesses. Indem die lange Zeit herrschende marxistisch-leninistische Hagiografie dieses Denken mit unvertretbarer Unmittelbarkeit präsentiert und ein instrumentelles Endergebnis vorausbestimmt hat, hat sie seinen Erkenntnisweg entstellt und seine armseligste Reflexion wiedergegeben. Es geht dagegen darum, Entstehung, Einflüsse und Errungenschaften seiner Arbeiten zu rekonstruieren, um die Komplexität und den Reichtum eines Werks zu verdeutlichen, das dem kritischen Denken der Gegenwart noch immer etwas zu sagen hat.

ANHANG: CHRONOLOGISCHE TABELLE DER IN PARIS VON MARX VERFASSTEN EXZERPTHEFTE UND MANUSKRIPTE

ABfassungs-

Zeitraum

Inhalt der Hefte NACH-LASS Merkmale der Hefte
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 R. Levasseur, Mémoires MH Die Seiten mit den Exzerpten sind in zwei Spalten unterteilt.
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 J. B. Say, Traité d’économie politique B 19 Das großformatige Heft umfasst Seiten mit in zwei Spalten unterteilten Exzerpten: in der linken aus dem Traité von Say und in der rechten (die nach Abfassung von B 24 geschrieben wurde) aus Skarbek und dem Cours complet von Say.
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 C. W. C. Schüz, Grundsätze der National-Ökonomie B 24 Großformatiges Heft, Seiten in zwei Spalten unterteilt.
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 F. List, Das nationale System der politischen Ökonomie B 24
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 H. F. Osiander, Enttäuschung des Publikums über die Interessen des Handels, der Industrie und der Landwirtschaft B 24
Zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 H. F. Osiander, Über den Handelsverkehr der Völker B 24
Frühjahr 1844 F. Skarbek, Theorie des richesses sociales B 19
Frühjahr 1844 J. B. Say, Cours complet d’économie politique pratique B 19
Mai-Juni 1844 A. Smith, Recherches sur la nature et les causes de la richesse des nations B 20 Kleinformatiges Heft mit normaler Seitengestaltung.
Ende Mai-Juni 1844 K. Marx, Arbeitslohn; Gewinn des Capitals; Grundrente; [Entfremdete Arbeit und Privateigentum] A 7 Großformatiges Heft, Seiten in zwei bzw. drei Spalten unterteilt. Der Text umfasst Zitate aus Say, Smith, aus Die Bewegung der Production von Schulz, aus der Théorie nouvelle d’économie sociale et politique von Pecqueur, aus Solution du problème de la population et de la substance von Loudon und aus Buret.
Juni-Juli 1844 J. R. MacCulloch, Discours sur l’origine, les progrès, les objets particuliers, et l’importance de l’économie politique B 21 Kleinformatiges Heft, Seiten in zwei Spalten unterteilt, mit Ausnahme der Seite 11, die einen Abriss von Engels’ Artikel enthält.
Juni-Juli 1844 G. Prevost, Réflexions du traducteur sur le système de Ricardo B 21
Juni-Juli 1844 G. Prevost, Réflexions du traducteur sur le système de Ricardo B 21
Juni-Juli 1844 F. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie B 21
Juni-Juli 1844 A. L. C. Destutt de Tracy, Éléments d’Idéologie B 21
Spätestens Juli 1844 K. Marx, [Das Verhältnis des Privateigentums] A 8 Auf großformatige, in zwei Spalten unterteilte Blätter geschriebener Text.
Zwischen Juli und August 1844 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes A 9 (Hegel) Später in A 9 eingenähtes Blatt.
August 1844

K. Marx, [Privateigentum und Arbeit]; [Privateigentum und Kommunismus];[Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt]; [Privateigentum und Bedürfnisse]; [Zusätze]; [Teilung der Arbeit]; [Vorrede]; [Geld].

 

A 9 Großformatiges Heft. Der Text umfasst Zitate aus: Das entdeckte Christentum von Bauer, aus Smith, Destutt de Tracy, Skarbek, J. Mill, aus Goethes Faust, aus dem Timon von Athen von Shakespeare,sowie aus verschiedenen in der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» erschienenen Artikeln von Bauer. Indirekt wird außerdem Bezug genommen auf: Engels, Say, Ricardo, Quesnay, Proudhon, Cabet, Villegardelle, Owen, Hess, Lauderdale, Malthus, Chevalier, Strauss, Feuerbach, Hegel und Weitling.
September 1844 D. Ricardo, Des principes de l’économie politique et de l’impôt B 23 Großformatiges Heft, Seiten in zwei, selten auch in drei Spalten unterteilt. Die ersten beiden Seiten mit Exzerpten aus Xenophon sind nicht in Spalten unterteilt.
September 1844 J. Mill, Éléments d’économie politique B 23
Zwischen Sommer 1844 und Januar 1845 E. Buret, De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France B 25 Kleinformatiges Heft mit normaler Seitengestaltung.
Zwischen Mitte September 1844 und Januar 1845 P. de Boisguillebert, Le détail de la France B 26 Großformatiges Heft mit Exzerpten aus Boisguillebert. Normale Seitengestaltung, mit Ausnahme weniger Seiten, die in zwei Spalten unterteilt sind.
Zwischen Mitte September 1844 und Januar 1845 P. de Boisguillebert, Dissertation sur la nature des richesses, de l’argent et des tributs B 26
Zwischen Mitte September 1844 und Januar 1845 P. de Boisguillebert, Traité de la nature, culture, commerce et intérêt des grains B 26
Zwischen Mitte September 1844 und Januar 1845 J. Law, Considération sur le numéraire et le commerce B 26
Zwischen Mitte September 1844 und Januar 1845 J. Lauderdale, Recherches sur la nature et l’origine de la richesse publique B 22 Großformatiges Heft, Seiten in zwei Spalten unterteilt.

References
1. Honoré de Balzac, Ferragus, das Haupt der Verschworenen, in: Geschichte der Dreizehn (Die großen Romane und Erzählungen, Bd. 7), Insel Verlag, Frankfurt/Main, Leipzig 1996, S. 21.
2. Vgl. Isaiah Berlin, Karl Marx. Sein Leben und sein Werk, Piper & Co Verlag, München 1959, S. 94 f.
3. Michail Bakunin, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², Dietz Verlag, Berlin 1982, I/2, S. 482.
4. Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Otto Wigand Verlag, Leipzig 1848, S. 509.
5. Arnold Ruge, Zwei Jahre in Paris. Etudien und Erinnerungen, Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1975, S. 59.
6. Honoré de Balzac, Ferragus, das Haupt der Verschworenen, a.a.O., S. 19.
7. «Nicht nur, daß eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, daß er keine exacte Anschauung von dem hat, was werden soll», in Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA² I/2, S. 486.
8. Im vorliegenden Beitrag stehen die unvollständigen Manuskripte von Marx, die von späteren Herausgebern veröffentlicht wurden, in eckigen Klammern.
9. «[D]er politische Staat kann nicht sein ohne die natürliche Basis der Familie und die künstliche Basis der bürgerlichen Gesellschaft; sie sind für ihn eine conditio sine qua non» (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA² I/2, S. 9); «Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats; sie sind die eigentlich Tätigen; aber in der Spekulation wird es umgekehrt» (ebd., S. 8). Genau hier steckt Hegels Fehler, der will, dass «der politische Staat nicht von der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird, sondern umgekehrt sie bestimmt» (ebd., S. 100). Vgl. dazu Walter Tuchscheerer, Bevor „Das Kapital“ entstand, Akademie Verlag, Berlin 1968, S. 68.
10. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 325.
11. Vgl. Maximilien Rubel, Introduction zu Karl Marx Œuvres. Economie II, Gallimard, Paris 1968, S. LIV-LV, der den Beginn des langen Alptraums von Marx’ ganzem Leben, die theoretische Besessenheit, von der er nie wieder lassen wird – die Kritik der Nationalökonomie – auf genau diesen Moment datiert.
12. Vgl. Walter Tuchscheerer, a.a.O, S. 76.
13. Karl Marx, Exzerpte aus Jean Baptiste Say: Traité d’economie politique, MEGA² IV/2, Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 316-7.
14. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 363.
15. Ebd., S. 364.
16. Ebd., S. 374.
17. Ebd., S. 384.
18. Karl Marx, Exzerpte aus James Mill: Élémens d’économie politique, MEGA² IV/2, S. 453.
19. Ebd., S. 456.
20. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA I/2, S. 365.
21. Karl Marx, Exzerpte aus James Mill: Éléments d’économie politique, MEGA² IV/2, S. 466.
22. Vgl. diesbezüglich die Zeugnisse von Arnold Ruge: «Er liest sehr viel; er arbeitet mit ungemeiner Intensivität […] aber er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer», «…wenn er sich krank gearbeitet und drei, ja vier Nächte hintereinander nicht ins Bett gekommen ist», A. Ruge an L. Feuerbach, Paris, 15. Mai 1844, in Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Gespräche mit Marx und Engels, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1973, S. 23-24. «Wenn Marx sich nicht durch Wüstheit, Hochmut und tolles Arbeiten umbringt und in kommunistischer Originalität nicht allen Sinn für einfache, noble Form verliert, so ist von seiner großen Belesenheit und selbst von seiner gewissenlosen Dialektik noch etwas zu erwarten […]. Er will immer das schreiben, was er zuletzt gelesen, liest dann aber immer wieder weiter und macht neue Exzerpte. Noch halte ich es für möglich, daß er ein recht großes und recht abstruses Buch fertigbringt, in das er alles hineinpropft, was er aufgehäuft hat». A. Ruge an M. Duncker, 29. August 1844, ebd., S. 31.
23. Vgl. das Zeugnis von Paul Lafargue, der Engels’ Erzählung über den Herbst 1844 wiedergibt: «Engels und Marx hatten die Gewohnheit angenommen, zusammen zu arbeiten; Engels, der doch die Genauigkeit bis zum Äußersten trieb, konnte dennoch manchmal über die Skrupulosität von Marx ungeduldig werden, der keinen Satz aufstellen wollte, den er nicht auf zehn verschiedene Arten beweisen konnte». P. Lafargue [1904], Herbst 1844, ebd., S. 32.
24. Vgl. Heinrich Bürgers: «Indessen, die scharfe Selbstkritik, die er gegen sich selbst zu üben gewohnt war, ließ ihn nicht zu dem größeren Werk kommen». H. Bürgers [1876], Herbst 1844/Winter 1845, ebd., S. 46-47.
25. Zu dieser komplizierten Beziehung vgl. David Rjazanov, Einleitung zu MEGA I/1.2, Marx-Engels-Verlag, Berlin 1929, S. XIX, der als erster auf die große Schwierigkeit einer klaren Grenzziehung zwischen bloßen Exzerptheften und als wahren Vorarbeiten zu betrachtenden Texten hingewiesen hat.
26. Vgl. Jürgen Rojahn, Marxismus – Marx – Geschichtswissenschaft. Der Fall der sog. „Ökonomisch-philosopischen Manuskripte aus dem Jahre 1844“, in International Review of Social History, Jg. XXVIII, 1983, Part 1, S. 20.
27. Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut und Jacob Peter Mayer, Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1932, S. 283-375.
28. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEGA I/3, Marx-Engels-Verlag, Berlin 1932, S. 29-172.
29. Zum Beweis der Einordnungsschwierigkeiten erscheinen diese Seiten in der MEGA² sowohl in der ersten als auch in der vierten Abteilung. Vgl. MEGA² I/2, S. 439-444, und MEGA² IV/2, S. 493-500.
30. Vgl. Jürgen Rojahn, The emergence of a theory: the importance of Marx’s notebooks exemplified by those from 1844, «Rethinking Marxism», Bd. 14, Nr. 4 (2002), S. 33.
31. Diesem Irrtum erliegt beispielsweise David McLellan, Marx before marxism, Reprint Macmillan, London 1970, S. 163.
32. Ohne im Geringsten die endlose Debatte über diese Schrift von Marx nachzeichnen zu wollen, seien hier zwei der wichtigsten Arbeiten angeführt, in denen die genannten Positionen vertreten werden. Der erstgenannten Richtung gehören Landshut und Meyer an, die als erste in den [Ökonomisch-philosophischen Manuskripten] «in gewissem Sinne die zentralste Arbeit von Marx [erblickt haben, die…] den Knotenpunkt seiner ganzen Gedankenentfaltung bildet» und «im Kern das Kapital vorwegnimmt». Vgl. Karl Marx,Der historische Materialismus. Die Frühschriften, a.a.O., S. XIII und V. Der zweitgenannten ist dagegen Althussers berühmte These von der coupure épistémologique zuzurechnen; vgl. Louis Althusser, Für Marx, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1968, S. 15.
33. Abgedruckt in MEGA², IV/2, S. 279-579, und MEGA², IV/3, Akademie Verlag, Berlin 1998, S. 31-110.
34. «Seine Manuskripte aus dem Jahr 1844 gingen geradewegs aus den Exzerpten jener Zeit hervor», in Jürgen Rojahn, The emergence of a theory: the importance of Marx’s notebooks exemplified by those from 1844, a.a.O, S. 33.
35. Marx las die englischen Ökonomen zu jener Zeit noch in französischer Übersetzung.
36. Vgl. Jacques Grandjonc, Marx et les communistes allemands à Paris 1844, Maspero, Paris 1974, S. 61-62, sowie den spätestens im November 1844 verfassten Brief von K. Marx an H. Börnstein, MEGA² III/I, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 248.
37. «Es besteht daher kein Anlaß, davon auszugehen, daß die “Manuskripte” einen eigenen Komplex für sich darstellen» (Jürgen Rojahn, Marxismus – Marx – Geschichtswissenschaft. Der Fall der sog. „Ökonomisch-philosopischen Manuskripte aus dem Jahre 1844“, a.a.O., S. 20).
38. Vgl. Jürgen Rojahn, The emergence of a theory: the importance of Marx’s notebooks exemplified by those from 1844, a.a.O., S. 45.
39. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 364.
40. Vgl. Michael Löwy, La théorie de la révolution chez le jeune Marx, Maspero, Paris 1970, S. 41, Anm. 22.
41. Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel “Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, MEGA² I/2, S. 462.
42. Ebd., S. 455.
43. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 372-373.
44. Ebd., S. 372.
45. Ebd., S. 387.
46. Bruno Bauer (Hg.), «Allgemeine Literatur-Zeitung», Heft 6, Verlag von Egbert Bauer, Charlottenburg 1844, S. 32. Marx führt das Zitat, wenngleich nicht wörtlich, in seinem Brief an Ludwig Feuerbach vom 11. August 1844 an. Vgl. MEGA² III/1, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 65.
47. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA ² I/2, S. 172.
48. Marx verwendet den Ausdruck in Die Heilige Familie zur Bezeichnung und Verspottung von Bruno Bauer und den anderen Junghegelianern, die an der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» mitarbeiteten.
49. Ebd., S. 177.
50. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA² I/2, S. 173.
51. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 395.
52. Vgl. Ernest Mandel, Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1843-1863), Europäische Verlagsanstalt/Europa Verlag, Frankfurt/Wien 1982, S. 156.
53. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 390.
54. Friedrich Engels-Karl Marx, Die heilige Familie, Marx Engels Werke, Band 2, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 128.
55. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA² I/2, S. 479.
56. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA² I/2, S. 178.
57. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA² I/2, S. 373-374.
58. Vgl. MEGA² IV/3, a.a.O, S. 11.
59. F. Engels an K. Marx, Anfang Oktober 1844, MEGA² III/I, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 245; vgl. außerdem F. Engels an K. Marx, um den 20. Januar 1845: «Mach daß Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du selbst auch mit Vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüther sind reif und wir müssen das Eisen schmieden weil es warm ist», ebd., S. 260.
60. Auf Druck der preußischen Regierung erließen die französischen Behörden einen Ausweisungsbefehl gegen verschiedene Mitarbeiter des «Vorwärts!». Marx musste Paris am 1. Februar 1845 verlassen.
61. Marx Engels Werke, Band 27, Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 669.
62. Die Chronologie umfasst alle von Marx während seines Paris-Aufenthalts von 1843-1845 verfassten Studienhefte (nicht berücksichtigt wurde daher das in der MEGA² IV/3, S. 5-30, erschienene [Notizbuch aus den Jahren 1844-1847], auch wenn es die höchst wichtigen [Thesen über Feuerbach] enthält). Da das Abfassungsdatum der Hefte oft ungewiss ist, wurde in vielen Fällen der Zeitraum angegeben, in dem sie vermutlich entstanden. Maßgeblich für die chronologische Ordnung ist das jeweilige Anfangsdatum der betreffenden Zeiträume. Außerdem hat Marx die Hefte nicht nacheinander verfasst, sondern bisweilen abwechselnd an ihnen geschrieben (s. B 19 und B 24). Aus diesem Grund wurde der Stoff entsprechend den verschiedenen Heftteilen geordnet. Für die Hefte mit den sogenannten [Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten] von 1844 (A 7, A 8 und A 9) wird Marx als Autor genannt, während die Paragraphenüberschriften, die nicht von ihm stammen, sondern von den Herausgebern des Textes eingefügt wurden, in eckigen Klammern stehen. Werden in der vierten Spalte (Merkmale der Hefte) von den Autoren, die Marx zitiert, keine Werktitel genannt, so entsprechen sie stets den schon in der zweiten Spalte (Inhalt der Hefte) angeführten Titeln. Mit Ausnahme von MH, das sich imRossiiskii gosudarstvennyi arkhiv sotsial’no-politicheskoi istorii (RGASPI) Moskau befindet, werden sämtliche Hefte aus dieser Zeit im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) Amsterdam unter den in der dritten Spalte (Nachlass) angegebenen Siglen aufbewahrt.

Ich möchte Jürgen Rojahn meinen Dank aussprechen, der sich freundlicherweise der Durchsicht der chronologischen Tabelle angenommen und mir wertvolle Verbesserungsvorschläge geliefert hat. Für eventuelle Fehler zeichne ich selbstverständlich allein verantwortlich.

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Auf den Spuren eines Gespenstes

Seit einigen Jahren ist in Europa, wenn nicht weltweit, ein wiedererwachendes Interesse an Marx-Studien zu beobachten. Trotz der Behauptung, dass es aus der Mode gekommen sei, steht das Marxsche Denken mit seinem Erklärungs- und Kritikpotential offensichtlich noch immer auf der Tagesordnung, wenn es darum geht, die heutige Welt und ihre Widersprüche zu analysieren und zu kritisieren.

Auch in Italien hat man nach vielen Jahren der Stille wieder begonnen, sich mit seinem Werk intensiver auseinanderzusetzen. Signum dafür ist auch die internationale Konferenz „Auf den Spuren eines Gespenstes. Das Marxsche Werk zwischen Philologie und Philosophie“, die von der Universität von Neapel „Federico II“, dem Universitätsinstitut „Suor Orsola Benincasa“, der Universität von Neapel „L’Orientale“ sowie der Universität Bari und mit Unterstützung verschiedener Kulturinstitute – wie dem renommierten „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ – veranstaltet wurde. Dreißig namhafte Marxforscher aus aller Welt – aus Europa, aber auch aus Japan, Mexiko und China – sind der Einladung gefolgt und zwischen dem 1. und dem 3. April 2004 in Neapel zusammengekommen. Das Treffen war von großem Publikums- und Medieninteresse und regen Diskussionen begleitet, was vor allem auch durch eine aufwendige simultane Verdolmetschung der Beiträge und Debatten in vier Sprachen ermöglicht wurde. So gelang es, ein echtes internationales Forum des Gedankenaustausches und der wissenschaftlichen Kontroverse zu schaffen, aber auch Perspektiven für zukünftige Zusammenarbeit zu eröffnen.

Die internationale Konferenz war in fünf Sektionen gegliedert. Zunächst wurden die textphilologischen Grundlagen reflektiert, auf denen heute jede seriöse Beschäftigung mit Marx beruhen muss. Es folgten Sektionen zum jungen Marx und seinen philosophischen Grundlagen sowie zum „Kapital“. Eine eigene Sektion war der Präsentation wichtiger internationaler Foren des intellektuellen und wissenschaftlichen Austausches der Marx-Forschung gewidmet.

Und schließlich wurde die Frage der Aktualität des Marxschen Denkens diskutiert. Ein wichtiges Ziel der Organisatoren war es, die Arbeit an der historisch- kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) dem italienischen Publikum vorzustellen. Der erste Teil der Konferenz war deshalb den Protagonisten dieses Unterfangens vorbehalten. Manfred Neuhaus (Berlin), der Sekretär der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, skizzierte die wechselvolle Geschichte der Ausgabe, ihren Aufbau und ihre Editionsgrundsätze: Vollständigkeit – was die Publikation großer Mengen unveröffentlichten Manuskriptmaterials in der MEGA einschließt –, authentische Textwiedergabe und Dokumentation der Textgenese. Dass sich aus diesen Editionsprinzipien neue Perspektiven im Blick auf das Marxsche Werk ergeben, ja dass dieses selbst durch Autorschaftsanalysen bei anonym erschienenen Schriften neue Konturen erhält, konnte Neuhaus am Beispiel jüngst publizierter Bände der MEGA demon- strieren. Gerald Hubmann (Berlin) ergänzte diese Ausführungen mit Überlegungen zum ,Dekonstruktivismus‘ der modernen historisch-kritischen Editionsphilologie. Hier würde nicht mehr – wie in früheren ,Klassiker‘-Ausgaben – in apologetischer Absicht vollendet, was die Autoren selbst nicht fertig gestellt hätten, stattdessen eröffne die Rekonstruktion des authentischen Textmaterials den eigentlichen Problemhorizont des Denkens großer Autoren, wie Hubmann an Beispielen aus dem Marxschen Werk illustrierte.

Der Beitrag Izumi Omuras, des Direktors einer Arbeitsgruppe der MEGA an der Universität von Sendai (Japan), lieferte ein Beispiel für die internationale Zusammenarbeit des Projektes: In japanisch-russisch-deutscher Forschungskooperation wurden die Bearbeitungsmanuskripte zum zweiten Buch des „Kapital“ ediert und mit mo- dernster Technik digital aufbereitet. Malcolm Sylvers (Venedig) gab einen Überblick über die dritte Abteilung der MEGA, die den Briefwechsel enthält. Als Charakteristikum hob Sylvers hervor, dass in der MEGA, im Unterschied zu vorhergehenden Ausgaben, auch die Briefe an Marx und Engels chronologisch eingeordnet würden, was die dialogische Struktur des Briefwechsels hervortreten lasse, wodurch ein wirkliches Verständnis der weit verzweigten Briefkorrespondenz von Marx und Engels überhaupt erst ermöglicht werde. Gian Mario Bravo (Turin) schließlich konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die historische Rekonstruktion der Verbreitung des Marxismus und der Marx- Rezeption in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er konnte zeigen, dass der italienische Sozialismus zwar seinem Selbstverständnis nach marxistisch war, in Wahrheit aber dem Marxschen Denken ziemlich fern stand.

Die zweite Sektion, „Kritik der Philosophie und Kritik der Politik beim jungen Marx“ war der Präsentation und Diskussion einiger neuer Auslegungen der Marxschen Frühschriften gewidmet. Giuseppe Cacciatore (Neapel), Gianfranco Borrelli (Neapel) und Stathis Kouvelakis (London) befassten sich dabei primär mit den Schriften von größerer politischer Betonung: Cacciatore unter- suchte die Frage des demokratischen Gedankens bei Marx, indem er das enge Verhältnis zwischen dem liberal-demokratischen Engagement der „Rheinischen Zeitung“ und den während dieser Phase gereiften philosophischen Ideen hinsichtlich des Widerspruchs zwischen der Zufälligkeit der Privatinteressen und der Wahrheit einer universellen Freiheit untersuchte. Borrelli und Kouvelakis analysierten die Marxschen Arbeiten zwischen 1843 und 1852 und schlossen daraus auf die große Bedeutung derselben für die zukünftigen theoretischen Entwicklungen. Die Beiträge des zweiten Teils der Sektion bezogen sich eher auf die philosophischen Grundlagen: So sprachen Peter Thomas (Queensland/Australien) und Mario Cingoli (Mailand) über die komplexe Beziehung zwischen Idealismus und Materialismus in den Marxschen Frühwerken. Ersterer untersuchte die Dissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ – wobei diese hier als erster theoretischer Text des jungen Marx gewertet wurde –, letzterer rekonstruierte die Genese des Marxschen Materialismus-Begriffs durch einen Vergleich zwischen den Jugendwerken „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ und den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ des Jahres 1844. Marcello Musto (Neapel) ging schließlich auf die Bedeutung der Pariser Zeit des Jahres 1844 für die geistige Entwicklung des jungen Marx ein.

Die dritte Sektion über „Das Kapital: die unvollendete Kritik“ war eine der bedeutsamsten des gesamten Treffens, an der viele wichtige internationale Gelehrte teilnahmen und durch eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Auslegungen des „Kapital“ dessen philologische und philosophisch-ökonomische Komplexität aufzeigten sowie ungelöste Fragen diskutierten. Der Einfluss Hegels auf Marx und sein Werk stand im Mittelpunkt der Referate von Roberto Finelli (Bari), Chris Arthur (Sussex/GB) und Riccardo Bellofiore (Bergamo). Finelli versuchte zu zeigen, wie die Grundstruktur des „Kapital“ aus dem Fichte-Hegelschen ,Zirkel des vorausgesetzt Gesetzten‘ abgeleitet werden könne und wie die Abstraktion vom Arbeitswert durch die reelle Subsumtion der Arbeitskraft durch das Kapital praktisch zu einer echten Abstraktion wird. Arthur behandelte die bedeutsame Homologie zwischen dem Tauschvorgang, der eine praktische Abstraktion von der natürlichen Eigenart der Waren hervorruft, und dem Gedankenvorgang, der ein System von Denkkategorien schafft, und schloss daraus die Möglichkeit, die Wertformen über die Hegelschen Denkkategorien zu erklären.

Bellofiore ging auf diese Fragen durch eine umfassende Darstellung der jüngsten Literatur zu diesem Thema ein. Von den anderen Vortragenden befasste sich Enrique Dussel (Mexico City) eingehend mit der Genese der Marxschen Kategorie der „Quelle“ der Wertschöpfung sowie mit dem Kreislauf des Kapitals, dessen Grenzen in der lebendigen Arbeit, in der Subjektivität des noch nicht subsumierten Arbeitenden liegen, und brachte dieses Konzept mit der derzeitigen Situation in Lateinamerika und seiner Masse von Arbeitslosen in Verbindung. Geert Reuten (Amsterdam) hingegen sprach über die abstrakte Arbeit als innere Substanz des Wertes der Waren und ihre Eigenschaft, letztere in homogene Mengen umzuwandeln. Wolfgang Fritz Haug (Berlin) untersuchte die Veränderungen, die Marx am ersten Buch des „Kapital“ von der ersten Ausgabe 1867 bis zu seiner französischen Übersetzung von 1872–1875 vorgenommen hatte und interpretierte diese Transformationen als Übergang zu einem neuen geschichtsphilosophischen Paradigma. Jacques Bidet (Paris) stellte schließlich sein metastrukturelles Rekonstruktionsprojekt des „Kapital“ vor, mit dem er Lösungen für lange diskutierte Problemfelder der „Kapital“-Konzeption bieten möchte.

Die vierte Sektion war in zwei Abschnitte geteilt. In einem ersten Teil wurden zwei bedeutende wissenschaftliche Publikationsprojekte dem internationalen Fachpublikum präsentiert: Das „Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus“, das bereits beim sechsten der vorgesehenen fünfzehn Bände an- gelangt ist und der erste Band des von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung neu herausgegebenen „Marx-Engels-Jahrbuchs“, der ausschließlich einer Neuedition von wichtigen Teilen der „Deutschen Ideologie“ gewidmet ist. Der zweite Teil der Sektion war als Runder Tisch organisiert und der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch einiger wichtiger internationaler („Actuel Marx“, „Historical Materialism“, „International Socialism Journal“) und italienischer („Critica marxista“, „Alternative“, „Rivista del manifesto“) Magazine gewidmet, die in den vergangenen Jahren Reflexionen zu Marx nicht aus ihrem Interessensbereich gestrichen und Überlegungen zur möglichen Anknüpfung an sein Denken in den verschiedenen Bereichen der gegenwärtigen Welt angestellt haben.

Die fünfte und letzte Sektion „Ein Heute für Marx“ wurde unter Reflexion auf die gegenwärtige internationale Situation eröffnet, die ein neues Marx-Studium ohne Behinderung durch politische Einflüsse erlaubt, die in der Vergangenheit so maßgeblich und irreführend waren. Erst jetzt sind seine Person, seine Werke und sein Denken in vollem Umfang der Erforschung und kritischen Diskussion zugänglich geworden. Abgesehen von den marxistischen Perspektiven verschiedener nationaler Entwicklungen – Wei Xiaoping (Peking) sprach über die Marxforschung in China, Alex Callinicos (York/GB) beschrieb den angelsächsischen Marxismus in den letzten Jahrzehnten – berührte der internationale Vergleich aktueller Perspektiven politische, philosophische und ökonomische Themen. Domenico Losurdo (Urbino) beschäftigte sich zunächst mit den verschiedenen Literaturgenres in den Marxschen Schriften, denen er unterschiedliche politische Intentionen zuordnete, um von dort aus Linien zu möglichen aktuellen Optionen, insbesondere zum Utopismus, zu ziehen. Andre ́ Tosel (Nizza) und Domenico Jervolino (Neapel) brachten gegen das Paradigma der Selbsterzeugung des Menschen ihre Konzeption eines „Communisme de la finitude“ zur Sprache, die schon früher Gegenstand ihrer Arbeiten gewesen war.

Michael Krätke (Amsterdam) betonte im abschließenden Beitrag die un- verminderte Aktualität der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie in der gegenwärtigen Krise der Hegemonie des neoliberalen Denkens. Allerdings sei diese Chance nur zu nutzen, wenn sich die Marxisten an die Bearbeitung der ungelösten Probleme machten, die in Marx’ unvollendetem Werk nach wie vor zu finden seien. Indem Krätke auf die Unabgeschlossenheit des Marxschen „Kapital“-Entwurfes explizit noch einmal hinwies und dazu ermunterte, sich besser auf die Manuskriptlage zu konzentrieren, statt sich mit Interpretationen zur Marxschen dialektischen Methode zu befassen, schlug er den Bogen zu- rück zur Marx-Philologie, fokussierte zugleich aber auch noch einmal die bis heute nicht entschiedenen Kontroversen der Forschung zum Marxschen Werk.

Die Konferenz zeigte somit, dass die fachwissenschaftlichen Debatten um Marx in vollem Gange sind. Parallel dazu ist der seit 1998 in einem veränderten Rahmen erscheinenden Marx-Engels-Gesamtausgabe eine beträchtliche internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden, und das mit Recht: Denn mit der MEGA werden die Textgrundlagen bereitgestellt, auf die jede wissenschaftliche Lektüre rekurrieren muss, und es wird durch die historisch-kritische Edition zugleich eine der Haupteigenschaften des Marxschen Werkes sichtbar: seine Unvollendetheit. Diese mindert den Wert seines Denkens in keiner Weise, sondern es zeigt sich vielmehr ein vielseitiges und polymorphes Vermächtnis, das uns Gelegenheit zur Kritik der Theorie, vielleicht aber auch Möglichkeiten der Anknüpfung bietet.

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Odyssee und neue Perspektiven des Werks von Karl Marx

Von tausend Sozialisten hat vielleicht einer eine ökonomische Schrift von Marx gelesen, von tausend Antimarxisten nicht einmal einer.

 

I. EINLEITUNG
Wenige Menschen haben die Welt aufgerüttelt wie Karl Marx. Auf seinen Tod folgte unmittelbar, mit einer Geschwindigkeit, die in der Geschichte kaum ihresgleichen hat, das Echo des Ruhms. Sehr bald führten die Arbeiter von Chicago und Detroit, genau wie die frühen indischen Sozialisten in Kalkutta, den Namen Marx im Munde. Sein Bild hing im Hintergrund beim Kongress der Bolschewiki in Moskau nach der Revolution. Sein Denken inspirierte Programme und Satzungen aller politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterbewegung, von ganz Europa bis nach Shanghai. Seine Ideen haben die Philosophie, die Geschichte, die Ökonomie unwiderruflich verändert.
Doch, trotz der Durchsetzung seiner Theorien, die im 20. Jahrhundert für einen Großteil der Menschheit zur herrschenden Ideologie und Staatsdoktrin wurden, und ungeachtet der enormen Verbreitung seiner Schriften, fehlt es bis heute an einer integralen, wissenschaftlichen Edition seiner Werke. Unter den großen Autoren der Menschheit wurde dieses Schicksal allein ihm zuteil.
Ein Hauptgrund für diese Sonderstellung liegt in dem weitgehend unvollständigen Charakter seines Werks. Sieht man nämlich von den Zeitungsartikeln ab, die in den fünfzehn Jahren zwischen 1848-1862 erschienen, größtenteils in der «New-York Tribune», die zu jener Zeit zu den wichtigsten Tageszeitungen der Welt zählte, so wurden im Vergleich zu den zahlreichen nur teilweise verwirklichten Arbeiten und dem beeindruckenden Berg durchgeführter Untersuchungen nur relativ wenige Werke veröffentlicht. Bezeichnenderweise antwortete Marx, als Karl Kautsky ihn 1881, einem von Marx’ letzten Lebensjahren, über die Möglichkeit einer vollständigen Edition seiner Werke befragte: «sie müssten erst sämtlich geschrieben sein» .
Marx hinterließ also weitaus mehr Manuskripte als in Druck gegebene Werke. Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung war sein Werk fragmentarisch, bisweilen widersprüchlich, und diese Aspekte unterstreichen eins seiner Hauptmerkmale, nämlich die Unvollendetheit. Marxens überaus strenge Methode und schonungslose Selbstkritik, die die Beendigung vieler in Angriff genommener Arbeiten unmöglich machten; die äußerst elenden Lebensbedingungen und der andauernd schlechte Gesundheitszustand, die ihn sein ganzes Leben lang plagten; der unerschöpfliche Erkenntnisdrang, der die Jahre hindurch unverändert blieb und ihn zu immer neuen Studien trieb; schließlich das in reifem Alter erlangte Bewusstsein von der Schwierigkeit, die Komplexität der Geschichte in einem theoretischen Projekt zu fassen – all dies machte aus der Unvollendetheit die treue Begleiterin und den Fluch von Marxens gesamter Produktion, aber auch seines Lebens. Der kolossale Plan seines Werks wurde nur zum geringsten Teil ausgeführt, so dass seine unablässigen intellektuellen Bemühungen literarisch gesehen scheiterten. Nichtsdestotrotz erwiesen sie sich als genial und außerordentlich folgenreich .
Dem fragmentarischen Charakter von Marx’ Nachlass und seinem Veto gegen die Schaffung einer weiteren Soziallehre zum Trotz, wurde das unvollendete Werk indes umgewälzt und ein neues System, der «Marxismus», entstand.

II. MARX UND DER MARXISMUS: UNVOLLENDETHEIT VERSUS SYSTEMATISIERUNG
Nach dem Tod von Marx, im Jahr 1883, widmete sich Friedrich Engels als erster dem Unterfangen, den Nachlass seines Freundes in Druck zu geben, das sich angesichts der Zerstreutheit des Materials, der verworrenen Sprache und der Unleserlichkeit der Schrift als äußerst schwierig erwies. Seine Arbeit konzentrierte sich auf die Rekonstruktion und Auswahl der Originale, die Publikation unveröffentlichter oder unvollständiger Texte und gleichzeitig auch auf die Neuherausgabe und Übersetzung der schon bekannten Schriften.
Mit wenigen Ausnahmen, wie den [Thesen über Feuerbach] , die 1888 im Anhang zu seinem Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie publiziert wurden, und der [Kritik des Gothaer Programms], die 1891 erschien, gab Engels der Redaktionsarbeit für die Vollendung des Kapitals, von dem nur das erste Buch fertiggestellt worden war, den unbedingten Vorrang. Diese Anstrengung, die über ein Jahrzehnt in Anspruch nahm, wurde in der erklärten Absicht unternommen, «ein zusammenhängendes und möglichst abgeschloßnes Werk» herzustellen. Auch wenn diese Entscheidung verständlichen Anforderungen entsprach, bewirkte sie den Übergang von einem partiellen, vorläufigen Text, der in weiten Teilen aus «in statu nascendi niedergeschriebenen Gedanken» und vorbereitenden Aufzeichnungen bestand, die Marx sich gewöhnlich für weitere Ausarbeitungen der behandelten Themen vorbehielt, zu einem anderen, einheitlichen Text, der den Anschein einer systematischen und vollendeten ökonomischen Theorie erweckte. Im Zuge seiner Redaktionsarbeit, während er jene Texte sichtete, die keine Endfassungen, sondern Varianten darstellten, ließ Engels sich von dem Anliegen der Vereinheitlichung leiten und rekonstruierte die von endgültigen Texten weit entfernten Bücher zwei und drei des Kapitals nicht in ihrer Entstehung und Entwicklung, sondern gab abgeschlossene Bände in Druck .
Im Übrigen, hatte er schon vorher mit seinen eigenen Schriften dazu beigetragen, einen Prozess theoretischer Systematisierung in Gang zu bringen. Der 1878 erschienene Anti-Dühring, den er als «mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung» bezeichnete, wurde zum zentralen Bezugspunkt bei der Herausbildung des «Marxismus» als System und bei dessen Differenzierung von dem zu jener Zeit vorherrschenden eklektischen Sozialismus. Noch größeren Einfluss hatte Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, einer umgearbeiteten Version von drei Kapiteln der vorzitierten Schrift zu Verbreitungszwecken, die erstmals 1880 erschien und ähnlich erfolgreich war wie das Manifest der kommunistischen Partei. Wenngleich ein klarer Unterschied bestand zwischen dieser Art von Popularisierung, die sich in offener Polemik gegen die simplizistischen Verkürzungen der enzyklopädischen Synthesen vollzog, und derjenigen, die dagegen von der Folgegeneration der deutschen Sozialdemokratie betrieben wurde, ebnete Engels’ Rekurs auf die Naturwissenschaften jedoch der evolutionistischen Konzeption den Weg, die sich wenig später auch in der Arbeiterbewegung durchsetzen sollte.

Marx’ unzweifelhaft kritisches, offenes, wenn auch von deterministischen Versuchungen nicht gänzlich unberührtes Denken fiel dem kulturellen Klima im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Opfer, das wie nie zuvor von systematischen Konzeptionen, allen voran dem Darwinismus, durchdrungen war. Um derlei Konzeptionen sowie dem Bedürfnis nach Ideologie zu entsprechen, das auch in den Reihen der Arbeiterbewegung wuchs, nahm der neugeborene «Marxismus», der in der von Kautsky herausgegebenen Zeitschrift «Die Neue Zeit» frühzeitig Orthodoxie geworden war, sehr bald dieselbe Gestalt an. Eine entscheidende Rolle spielten in diesem Zusammenhang die in der deutschen Partei verbreitete Unkenntnis und Aversion gegen Hegel – ein wahres Buch mit sieben Siegeln – und gegen dessen Dialektik, die gar betrachtet wurde als das «Verräterische in der Marxschen Doktrin, der Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt» .
Weitere Faktoren, die zur Umwandlung von Marxens Werk in ein System beitrugen, lassen sich in den Modalitäten seiner Verbreitung ausmachen. Wie die geringe Auflage der damaligen Ausgaben seiner Texte beweist, wurden vorzugsweise zusammenfassende Bändchen und sehr verkürzte Abrisse rezepiert. An einigen seiner Werke machten sich zudem die Wirkungen politischer Instrumentalisierung bemerkbar. So tauchten die ersten von den Herausgebern umgearbeiteten Ausgaben auf. Begünstigt durch die Ungewissheit des marxschen Nachlasses, setzte sich diese Praxis, zusammen mit der Zensur einiger Schriften, immer mehr durch. Die Handbuchform, ein bedeutendes Vehikel für die Verbreitung von Marx’ Denken in der Welt, war sicher ein sehr wirksames Propagandawerkzeug, bedeutete aber auch eine Verfälschung der ursprünglichen Konzeption. In der Begegnung mit dem Positivismus und in der Anpassung an die praktischen Erfordernisse der proletarischen Partei übersetzte sich die Verbreitung seines komplexen, unvollendeten Werks schließlich in Verarmung und Vulgarisierung des ursprünglichen Erbes , bis es, von Kritik in Weltanschauung verwandelt, ganz und gar unkenntlich war.
Aus diesen Entwicklungsprozessen ergab sich eine Doktrin, die auf einer schematischen, elementar evolutionistischen und mit ökonomischem Determinismus getränkten Interpretation fußte: der «Marxismus» zur Zeit der Zweiten Internationale (1889-1914). Vom ebenso festen wie naiven Glauben an den automatischen Fortgang der Geschichte und somit an die unausbleibliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus geleitet, erwies sie sich als unfähig, den realen Gang der Gegenwart zu begreifen, und erzeugte eine Art fatalistischen Quietismus, der bald zu einem Stabilitätsfaktor der bestehenden Ordnung geriet, indem man die notwendige Verbindung zur revolutionären Praxis durchtrennte . So wurde der große Abstand zu Marx offenbar, der schon in seinem ersten Werk erklärt hatte: «Die Geschichte tut nichts […]; es ist nicht etwa die ‘Geschichte’, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen» .
Die Zusammenbruchstheorie, das heißt die These vom bevorstehenden Ende der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die in der zwanzigjährigen Wirtschaftskrise der Großen Depression ab 1873 einen günstigen Nährboden fand, wurde als inneres Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus ausgegeben. Die Ausführungen von Marx, die darauf abzielten, die dynamischen Prinzipien des Kapitalismus zu skizzieren und dessen allgemeine Entwicklungstendenz zu beschreiben , wurden in allgemeingültige historische Gesetze verkehrt , von denen sich vermeintlich der Gang der Ereignisse bis in die Einzelheiten ableiten ließ.
Die Vorstellung vom in den letzten Zügen liegenden, von selbst zum Untergang bestimmten Kapitalismus war auch im theoretischen Ansatz der ersten gänzlich «marxistischen» Plattform einer politischen Partei, dem Erfurter Programm von 1891, und in dem diesbezüglichen Kommentar Kautskys zu finden. Dieser verkündete: «die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform an Stelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden» . Der Kommentar war der bedeutendste und offensichtlichste Ausdruck der inneren Grenzen der Ausarbeitung jener Zeit und offenbarte die tiefe Kluft im Verhältnis zu dem, an dem sie sich inspirierte.
Selbst Eduard Bernstein, der mit seiner Auffassung des Sozialismus als Möglichkeit, statt als Unausweichlichkeit einen Bruch mit den herrschenden Interpretationen der Zeit vollzogen hatte, lieferte von Marx eine ebenso verzerrte Interpretation, die sich nicht im mindesten von den zeitgenössischen Lesarten unterschied. Durch die große Resonanz der Bernstein-Debatte trug er zur Verbreitung eines gleichermaßen verfälschten und instrumentalisierten Marx-Bildes bei.

Der russische «Marxismus», der im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Rolle bei der Verbreitung des marxschen Denkens spielte, verfolgte den Weg der Systematisierung und Vulgarisierung mit gar noch größerer Starrheit.
Nach Ansicht seines ersten wichtigen Pioniers, Georgij Plechanow, war der Marxismus nämlich «eine ganze Weltanschauung» , die er im Sinn eines simplizistischen Monismus interpretierte, wonach die Veränderungen im Überbau der Gesellschaft im Gleichschritt mit den ökonomischen Veränderungen vorangehen. In Materialismus und Empiriokritizismus von 1909 definiert Lenin den Materialismus als «Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur und der annähernd richtigen Widerspiegelung dieser Gesetzmäßigkeit im Kopf des Menschen» . Wille und Bewusstsein der Menschheit müssen sich «unvermeidlich und notwendig» der Naturnotwendigkeit anpassen. Wiederum trägt der positivistische Ansatz den Sieg davon.
Trotz des scharfen ideologischen Kontrasts jener Jahre gingen also viele der Theorieelemente, welche die Entstellung des marxschen Denkens durch die Zweite Internationale geprägt hatten, in die Theorie ein, die fortan den kulturellen Hintergrund der Dritten Internationale bilden wird. Besonders deutlich spricht diese Kontinuität aus der 1921 erschienenen Theorie des historischen Materialismus von Nikolaj Bucharin, der meint: «Alle merken, dass in der Natur sowohl wie in der Gesellschaft eine bestimmte Regelmäßigkeit, eine bestimmte Gesetzmäßigkeit vorhanden ist. Es ist die erste Aufgabe der Wissenschaft, diese Regelmäßigkeit zu entdecken» . Dieser ausschließlich auf die Entwicklung der Produktivkräfte gestützte gesellschaftliche Determinismus brachte eine Doktrin hervor, nach der «die Vielheit der in der Gesellschaft wirksamen Ursachen keineswegs der Existenz einer einzigen einheitlichen Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung widerspricht» .
Von besonderem Interesse ist die Kritik von Antonio Gramsci, der einer Auffassung entgegentrat, in der die «Fragestellung als eine Suche nach Gesetzen, nach konstanten, regelmäßigen, gleichförmigen Linien […] mit dem etwas kindlich und naiv gefassten Bedürfnis zusammen[hängt], das praktische Problem der Vorhersehbarkeit der geschichtlichen Ereignisse endgültig zu lösen» . Seine klare Weigerung, die marxsche Philosophie der Praxis auf eine grobschlächtige Soziologie, «eine Weltauffassung auf ein mechanisches Formelwerk zu reduzieren, das den Eindruck macht, die ganze Geschichte in der Tasche zu haben» , war gerade deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil er damit über Bucharins Schrift hinausging und die weit über diesen hinaus verbreitete Orientierung zu bekämpfen suchte, die in der Sowjetunion schließlich eine unangefochtene Vorherrschaft führen wird.
Mit der Durchsetzung des «Marxismus-Leninismus» fand die Entstellung des marxschen Denkens ihren endgültigen Ausdruck. Die Theorie wurde ihrer Funktion einer Leitschnur für das Handeln entkleidet, um dieses stattdessen nachträglich zu rechtfertigen. Unumkehrbar wurde der Prozess mit dem «Diamat» (Dialekticeskij materializm), der «Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei» . Die wesentlichen Züge dieser Weltanschauung legte Stalins Bändchen Über dialektischen und historischen Materialismus aus dem Jahr 1938 fest, das eine außerordentliche Verbreitung erfuhr. Die Phänomene des kollektiven Lebens, so Stalin, stellen «Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Gesellschaft» dar, die «erkennbar» sind; «die Geschichte der Gesellschaft wird zur gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft, und die Erforschung der Geschichte der Gesellschaft verwandelt sich in eine Wissenschaft»: «Also kann die Wissenschaft von der Geschichte der Gesellschaft trotz aller Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu einer genau so exakten Wissenschaft werden wie, sagen wir, die Biologie, zu einer Wissenschaft, die imstande ist, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft in der Praxis auszunutzen» . Für die Partei des Proletariats stelle sich folglich die Aufgabe, ihre eigene Aktivität auf diese Gesetze zu gründen. Offenkundig hat das Missverständnis der Begriffe ‚wissenschaftlich’ und ‚Wissenschaft’ hiermit seinen Höhepunkt erreicht. An die Stelle der Wissenschaftlichkeit der auf sorgfältigen und kohärenten theoretischen Kriterien fußenden marxschen Methode trat die Vorgehensweise der Naturwissenschaften, die keinerlei Widerspruch zuließ.
Im Verein mit dem ideologischen Katechismus fand der denkbar starrste, intransigenteste Dogmatismus einen fruchtbaren Boden. Völlig losgelöst von der gesellschaftlichen Komplexität, speiste er sich, wie immer, wenn er auftritt, aus einer ebenso arroganten wie unbegründeten Wirklichkeitserkenntnis. Was die nicht vorhandene Beziehung zu Marx angeht, reicht es, sein Lieblingsmotto in Erinnerung zu rufen: De omnibus dubitandum .
Die «marxistisch-leninistische» Orthodoxie setzte einen strengen Monismus durch, der unfehlbar auch die Schriften von Marx in ein verfälschendes Licht rückte. Zwar erlebte der «Marxismus» mit der sowjetischen Revolution unbestreitbar eine bedeutende Ausdehnung und Verbreitung in geografischen Gebieten und Gesellschaftsklassen, aus denen er bis dahin ausgeschlossen war. Doch wiederum betraf die Zirkulation der Texte nicht unmittelbar Marxens Schriften, sondern Parteihandbücher, Vademekums und «marxistische» Anthologien zu den verschiedensten Themen. Außerdem griff die Zensur bestimmter Werke, die Zergliederung und Manipulation anderer sowie die Praxis der Herauslösung von Zitaten aus dem Zusammenhang und ihrer geschickten Montage immer mehr um sich. Solchen Zitaten, auf die man zu festgesetzten Zwecken zurückgriff, wurde die gleiche Behandlung zuteil, die der Räuber Prokustes seinen Opfern angedeihen ließ: waren sie zu lang, wurden sie gekürzt, waren sie zu kurz, wurden sie gestreckt.

Sicher ist es ein schwieriges Unterfangen, ein gelungenes Verhältnis herzustellen zwischen Verbreitung und Nicht-Schematisierung eines Denkens, zwischen seiner Popularisierung und dem Anspruch, es nicht zu verarmen – namentlich wenn es sich um ein so kritisches und gewollt nichtsystematisches Denken handelt wie das von Marx. Ihm konnte aber jedenfalls nichts Schlimmeres widerfahren.
Von verschiedener Seite nach Maßgabe politischer Notwendigkeiten und Kontingenzen zurechtgebogen, wurde er mit diesen gleichgesetzt und in ihrem Namen verunglimpft. Seine kritische Theorie wurde nach Art der Auslegung von Bibelversen behandelt, und es entstanden die undenkbarsten Paradoxe. Stets war er dagegen gewesen, «Rezepte […] für die Garküche der Zukunft zu verschreiben» , und wurde zum Urheber eines neuen Gesellschaftssystems gemacht. Er war ein Kritiker der strengsten Sorte, der sich nie mit Endpunkten zufrieden gab, und wurde zur Quelle des halsstarrigsten Doktrinarismus. Unermüdlich hatte er die materialistische Geschichtsauffassung verfochten, und wurde seinem historischen Kontext mehr als jeder andere Autor entrissen. Er war überzeugt, «dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß» , und wurde für eine Ideologie vereinnahmt, in der die politischen Avantgarden und Parteispitzen in der Rolle von Förderern des Klassenbewusstseins und Revolutionsführern die Vorherrschaft davontrugen. Er war ein überzeugter Verfechter der Abschaffung des Staates und wurde zu dessen Bollwerk stilisiert. Wie wenige andere Denker war er an der freien Entwicklung der Individualität der Menschen interessiert gewesen, hatte – gegen das bürgerliche Recht, das die sozialen Ungleichheiten hinter einer rein legalen Gleichheit versteckt – gefordert, dass «das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein» müsste , und wurde mit einer Konzeption gleichgesetzt, die den Reichtum der kollektiven Dimension in der Ununterschiedenheit der Homologisierung zunichte gemacht hat.
Die ursprüngliche Unvollendetheit der großen kritischen Arbeit von Marx ging unter dem Druck der Systematisierungsbestrebungen der Epigonen verloren, die unausweichlich die Entstellung seines Denkens herbeiführten, bis es schließlich ausgelöscht wurde und dastand als seine eigene Negation.

III. EIN VERKANNTER AUTOR
«Wurden je die Schriften von Marx und Engels […] von irgend jemandem außerhalb des engsten Freundes- und Schülerkreises, d. h. der unmittelbaren Gefolgsleute und Interpreten dieser Autoren lückenlos gelesen?» So formulierte Antonio Labriola 1897 die Frage, was von den Marx-Engels’schen Werken bis dahin bekannt war. Er kam zu einem unmissverständlichen Schluss: «Die Lektüre aller Schriften der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ist bis heute sozusagen ein Privileg der Eingeweihten»; der «historische Materialismus […] hat […] unendlich viele Missverständnisse, Zweideutigkeiten, groteske Verdrehungen, seltsame Verwandlungen über sich ergehen lassen müssen» . Ein imaginärer «Marxismus». In der Tat entsprang die Überzeugung, dass Marx und Engels tatsächlich gelesen worden seien, einer hagiografischen Legende, wie die spätere historiografische Forschung bewiesen hat. Viele ihrer Schriften waren nämlich auch in der Originalsprache rar oder unauffindbar. Der Appell des italienischen Wissenschaftlers, «eine vollständige und kritische Ausgabe aller Schriften von Marx und Engels zu besorgen» , entsprach somit einer unumgänglichen allgemeinen Notwendigkeit. Nach Labriola durfte es nicht darum gehen, Anthologien zusammenzustellen oder ein testamentum juxta canonem receptum zu verfassen, sondern «das ganze umfangreiche wissenschaftliche und politische Wirken der beiden Begründer des kritischen Sozialismus, ihre gesamte schriftstellerische Produktion, auch wenn sie gelegenheitsbedingt ist, muss der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden […], damit sie alle Lesewilligen unmittelbar ansprechen» . Über ein Jahrhundert später ist dieses Projekt noch immer nicht realisiert.
Neben solchen vorwiegend philologischen Betrachtungen stellte Labriola auch theoretische Überlegungen an, die für seine Zeit von erstaunlicher Weitsicht künden. Alle unabgeschlossenen Schriften und Arbeiten von Marx und Engels betrachtete er als «Fragmente einer ständig im Werden befindlichen Wissenschaft und Politik». Um zu verhindern, dass in ihnen gesucht werde, «was in ihnen nicht steht und nicht zu stehen hat», nämlich «eine Art Vulgata oder Gebotstafel für die Interpretation der Geschichte aller Zeiten und Orte», und um sie recht verstehen zu können, müssten sie in ihre Entstehungszeit und ihren Entstehungszusammenhang eingebettet werden. Dagegen würden diejenigen, die «das Denken und Wissen wie etwas materiell Existierendes auf[fassen], statt wie Aktivitäten in fieri», das heißt «die Doktrinäre und Vermessenen aller Spielarten, die geistige Leitbilder brauchen, die Hersteller von klassischen Systemen, gut für alle Ewigkeit, die Schreiberlinge von Textbüchern und Nachschlagewerken[,] im Marxismus zu Unrecht und völlig verkehrt das suchen, was er niemandem zu bieten beabsichtigte» : eine summarische, fideistische Antwort auf die Fragen der Geschichte.
Natürlicherweise hätte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands der Verwirklichung der Opera omnia annehmen müssen, denn sie verwaltete den Nachlass und besaß die größten sprachlichen und theoretischen Kompetenzen. Doch die politischen Konflikte im Schoß der Sozialdemokratie verhinderten nicht nur die Publikation der gewaltigen und bedeutsamen Masse der marxschen Inedita, sondern führten auch zur Zerstreuung der Manuskripte. Die Hypothese einer systematischen Herausgabe wurde dadurch nachhaltig in Frage gestellt . Unfassbarerweise besorgte die deutsche Partei überhaupt keine Ausgabe und behandelte das literarische Erbe von Marx und Engels mit äußerster Nachlässigkeit . Keiner der Parteitheoretiker bemühte sich darum, eine Aufstellung des aus zahlreichen unvollständigen Manuskripten und unvollendeten Projekten bestehenden intellektuellen Erbes der beiden Gründer anzufertigen. Erst recht widmete sich niemand der Sammlung der umfänglichen, aber extrem verstreuten Korrespondenz, obwohl sie als Quelle für Klärungen, wenn nicht gar Fortsetzungen ihrer Schriften von größtem Nutzen ist. Die Bibliothek der von ihnen besessenen Bücher, die mit aufschlussreichen Randbemerkungen und Hervorhebungen versehen sind, wurde nicht beachtet, zum Teil zerstreut und erst später mühsam wieder zusammengetragen und katalogisiert .
Die erste Veröffentlichung des Gesamtwerks, die Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA), wurde erst in den zwanziger Jahren auf Initiative von David Borisovič Rjazanov, wichtigster Marx-Kenner des 20. Jahrhunderts und Leiter des Marx-Engels-Instituts Moskau, in Angriff genommen. Auch dieses Unterfangen war indes zum Scheitern verurteilt aufgrund der turbulenten Wechselfälle der internationalen Arbeiterbewegung, die der Herausgabe ihrer Schriften allzu oft eher hinderlich als förderlich waren. Die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion, die auch über den Forschern hereinbrachen, die das Projekt leiteten, und der Aufstieg des Nazismus in Deutschland bedingten den frühzeitigen Abbruch der Edition und machten auch diesen Versuch zunichte. So bildete sich ein grundsätzlicher Widerspruch heraus: es entstand eine starre Ideologie, die sich an einem zum Teil noch gar nicht erforschten Autor inspirierte. Die Durchsetzung des «Marxismus» und seine Kristallisierung in einem dogmatischen Korpus gingen der Kenntnis der Texte voraus, deren Lektüre für das Verständnis von Herausbildung und Entwicklung des marxschen Denkens unerlässlich war . Tatsächlich wurden die wichtigsten Jugendschriften erst mit der MEGA in Druck gegeben: die [Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie] 1927, die [Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844] und [Die deutsche Ideologie] 1932. Einige wichtige vorbereitende Arbeiten zum Kapital wurden noch später und in so kleiner Auflage gedruckt, dass nur eine sehr geringe Verbreitung gewährleistet war: 1933 [Das Kapital. Erstes Buch. Sechstes Kapitel. Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses] und zwischen 1939 und 1941 die Hefte der [Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie]. Außerdem wurden diese Inedita von einer auf politische Erfordernisse zugeschnittenen Interpretation begleitet, die bestenfalls banale Korrekturen an der bereits feststehenden Lesart vornahm, sich aber nie in eine ernsthafte umfassende Neudiskussion des Werks übersetzte. Das gleiche gilt für alle anderen Inedita, die folgten – wenn sie nicht gleich verborgen wurden, aus Furcht, sie könnten den herrschenden ideologischen Kanon in Frage stellen.
Zwischen 1928 und 1947 wurde, ebenfalls in der Sowjetunion, die erste russische Werkausgabe, die Sočinenija (Sämtliche Werke), abgeschlossen. Dem Namen zum Trotz gab sie nur eine gewisse Anzahl der Schriften wieder, bildete jedoch mit ihren 28 Bänden (in 33 Büchern) die in jener Zeit umfänglichste Sammlung der beiden Autoren. Die zweite Sočinenija erschien hingegen zwischen 1955 und 1966 in 39 Bänden (42 Büchern). In der Deutschen Demokratischen Republik wurden zwischen 1956 und 1968 die 41 Bände (43 Bücher) der Marx Engels Werke (MEW) herausgegeben. Diese alles andere als vollständige Ausgabe wurde allerdings durch die Einleitungen und den Anmerkungsapparat aufgebläht, die nach dem Vorbild der sowjetischen Ausgabe konzipiert waren und die Lektüre entsprechend den Auffassungen des «Marxismus-Leninismus» lenkten.
Der Plan zu einer «zweiten» Mega, die sich die treue Wiedergabe sämtlicher Schriften der beiden Denker, einschließlich kritischem Apparat, zum Ziel setzte, wurde in den sechziger Jahren neu gefasst. Doch wurden die Publikationen, die 1975 begonnen hatten, abermals eingestellt, diesmal in Folge der Ereignisse von 1989. Mit dem Ziel, diese Ausgabe fortzusetzen, wurde 1990 vom «Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis» in Amsterdam und dem «Karl-Marx-Haus» in Trier die «Internationale Marx-Engels-Stiftung» (IMES) ins Leben gerufen. Nach einer anstrengenden Reorganisationsphase, in deren Verlauf neue Redaktionsprinzipien festgelegt wurden und der Akademie Verlag den Dietz Verlag ablöste, erscheinen seit 1998 die Bände der Marx-Engels Gesamtausgabe, der so genannten MEGA², weiter.
Die gewundenen Wege der Verbreitung von Marx’ Schriften und das Fehlen einer integralen Edition sind zusammen mit der ursprünglichen Unvollendetheit, der ruchlosen Arbeit der Epigonen, den tendenziösen Lektüren und den noch zahlreicheren Nicht-Lektüren die Hauptgründe für ein großes Paradox: Karl Marx ist ein verkannter Autor, Opfer eines tiefen, anhaltenden Missverständnisses . Er war es in der Zeit der politischen und kulturellen Hegemonie des «Marxismus», er ist es noch heute.

IV. EIN WERK FÜR DIE HEUTIGE ZEIT
Jetzt, da Marxens Werk von der schrecklichen Funktion eines instrumentum regni, die ihm in der Vergangenheit zugedacht worden war, befreit ist und die Fesseln des «Marxismus-Leninismus» endgültig abgeschüttelt hat, ist es endlich den freien Feldern des Wissens zurückgegeben. Sein wertvolles theoretisches Erbe, vermeintlichen Eigentümern und instrumentalisierter Verwendung entrissen, kann sich nun voll entfalten.
Mit Hilfe der Philologie wird dem unumgänglichen Bedürfnis nach Erschließung der Quellen, die so lange Zeit von der apologetischen Propaganda verhüllt und mystifiziert wurden, und dem Bedarf an einem gesicherten, definitiven Verzeichnis aller Manuskripte von Marx entsprochen. Die Philologie ist das unabdingbare Werkzeug, um Licht auf seine Texte zu werfen, ihren ursprünglichen, vielgestaltigen Problemhorizont nachzuzeichnen und die enorme Kluft zu vielen der Interpretationen und politischen Erfahrungen zu verdeutlichen, die sich zwar auf Marx beriefen, aber ein höchst reduktives Bild von ihm überliefert haben. Marx lesen, mit dem Ziel, die Genese der Schriften und ihren historischen Entstehungszusammenhang zu rekonstruieren, ihrem durchgängig multidisziplinären Charakter Rechnung zu tragen und zu verdeutlichen, wie tief wir geistig in seiner Schuld stehen – das ist die mühevolle Aufgabe, die sich der neuen Marx-Forschung stellt. Um sie zu verwirklichen, bedarf es einer permanent kritischen Haltung, fern der irreführenden Beeinflussung durch die Ideologie.
Doch fehlt es dem marxschen Werk nicht nur an einer angemessenen kritischen Interpretation, die seinem Genie gerecht werden würde. Es ist vielmehr auch ein Werk auf ständiger Suche nach einem Autor. Zu glauben, das theoretische und politische Erbe von Marx könne auf eine Vergangenheit verwiesen werden, die den heutigen Konflikten nichts mehr zu sagen hat, es könne auf die Funktion eines mummifizierten Klassikers ohne Belang für die heutige Zeit begrenzt oder in ein rein spekulatives Fachwissen eingesperrt werden, wäre ein ebenso irriges Unterfangen wie seine Verwandlung in die Sphinx des grauen ‘Realsozialismus’ des 20. Jahrhunderts.
In ihren Grenzen und Ansprüchen gehen seine Reflexionen weit über den Bereich der akademischen Disziplinen hinaus. Ohne das Denken von Marx würden uns die Begriffe für Verständnis und Beschreibung der zeitgenössischen Welt fehlen, ebenso wie die kritischen Instrumente, um dem herrschenden Credo entgegenzutreten, das besagt, die Gegenwart lasse sich im antihistorischen Gewand der naturhaften Unwandelbarkeit darstellen.
Ohne Marx wären wir zu einer wahren Sprachlosigkeit der Kritik verurteilt. Man sollte sich nicht durch seine scheinbare Inaktualität, durch das einstimmige Dogma täuschen lassen, welches mit Sicherheit festsetzt, dass er bald in Vergessenheit geraten wird. Die Sache der menschlichen Emanzipation wird ihn immer noch brauchen.
Als unübertroffener Kritiker des kapitalistischen Produktionssystems wird Karl Marx bis zu seiner Überwindung grundlegend bleiben. Sein «Gespenst» wird weiterhin umgehen in der Welt und die Menschheit noch lange bewegen.

 

Uebersetzung aus italienisch Leonie Schroeder

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Internationale Marx-Konferenz in Neapel

Nach Jahren des Schweigens über das Werk von Karl Marx in Italien beginnt man hierüber wieder ernsthaft zu reden. Eine Gelegenheit hierfür war die internationale Konferenz „Auf den Spuren eines Gespenstes. Das Werk von Karl Marx zwischen Philologie und Philosophie.“ Dreizehn Marx-Spezialist Innen aus mehreren europäischen Ländern, Japan, China und Mexiko sind dafür vom 1. bis 3. April 2004 in Neapel zusammengekommen.

Das erste Ziel der Organisation bestand darin, einem italienischen Publikum zum ersten Mal die Ergebnisse der Neukonzipierung und Fortsetzung der neuen Ausgabe der Werke von Marx und Engels in den jeweiligen Originalsprachen vorzustellen. Es gibt bislang keine vollständige und wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke, darunter eines bedeutenden Teils ihrer Manuskripte und der beträchtlichen Menge von Auszügen und Notizen zu ihrer Lektüre, die sie bei ihren Studien gewöhnlich anfertigten, sowie ihrer beeindruckenden Korrespondenz.

Die historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Werke von Marx und Engels, der Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA), deren erste Bände 1975 erschienen waren, wurde infolge der Ereignisse von 1989 unterbrochen. 1990 führte eine Initiative des Amsterdamer „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ (IISG) zur Gründung der Internationalen Marx Engels Stiftung (IMES), deren Ziel darin besteht, dieses Unternehmen zum Abschluss zu bringen (bislang liegen erst 49 von den 114 Bänden vor). Neben dem IISG gehören die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), das Historische Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung und das Moskauer „Rossijskij gosudarstvennyj archiv so- cial‘no-politiieskoj istorii“ (RGASPI) der IMES an. Zur Zeit beteiligen sich Fachleute, die in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Japan, den USA, Dänemark und Italien arbeiten, an ihrer Tätigkeit.

Ausgehend von den editorischen Leistungen der Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA) ist mit dem Kolloquium in Neapel versucht worden, ein genaues Marx-Studium wieder aufzunehmen, wobei das Unabgeschlossene seines Werks als eines der Hauptmerkmale betrachtet wird. Dieser Aspekt, der dessen Wert durchaus nicht mindert, weist auf ein vielförmiges und vielfältiges Erbe hin und eröffnet neue Perspektiven für die Weiterarbeit an der kritischen Theorie. Einige neuere Interpretationen von Marx’ Schriften haben die Art und die Bedeutung der neuen Marx-Forschung hervortreten lassen, die für jedes kritische Denken notwendig und für das Verständnis der Gegenwart unabdingbar ist.

Übersetzung: Friedrich Dorn