Subversive Sorte: Der späte Marx und ein Lob des Zweifelns
Eine Lektüre gegen den Missbrauch: Marcello Mustos intellektuelle Biografie des späten Karl Marx beschreibt einen »Autor, der sich sehr von jener Person unterscheidet, die uns viele Marx-Kritiker oder selbsternannte Anhänger über so lange Zeit präsentiert haben«.
Also noch ein Buch über den Alten aus Trier. Man könnte diesen Satz nach dem monatelang anhaltenden Publikationsregen zum Doppeljubiläum 150 Jahre »Das Kapital« und 200 Jahre Karl Marx im Tonfall der Ermüdung aufsagen, doch das würde bloß von der Zahl der Neuerscheinungen ausgehen, die über deren Qualität noch nicht viel sagt. Was kann ein Nachzügler dafür, dass ihm überspannten Marxerei vorausging, welche zwischen Banalitäten wie »Ist er noch aktuell?« und »Das waren doch alles Irrtümer mit bösen Folgen!« oszillierte.
Marcello Musto beginnt sein nun erschienenes Buch mit dem Hinweis auf diese »Mode«, die seit dem Ausbruch der großen Krise 2008 viel Lesenswertes und noch viel mehr Überflüssiges produziert hat. »Das Studium seiner Werke hat nach mehr als 20 Jahren der Ignoranz wieder Fahrt aufgenommen und teilweise wichtige, bahnbrechende Resultate hervorgebracht«, schreibt der in Kanada lehrende italienische Sozialwissenschaftler da. Zwischen diesen Resultaten und dem, was zum allgemeinen Marx-Neudiskurs gerechnet werden kann, wird aber nur selten eine Brücke geschlagen.
Michael R. Krätke hat unlängst »drei entscheidende Fortschritte« der jüngsten Zeit umrissen: Erstens, mit der Edition der Originalmanuskripte zur »Deutschen Ideologie« in der MEGA ist nun nicht mehr abweisbar, dass wir es hier mit einem Buch zu tun haben, »das Marx und Engels nie geschrieben haben. Der Gebrauch oder besser Missbrauch dieser Texte, um dem Konstrukt des ›historischen Materialismus‹ eine Grundlage zu verschaffen, wird damit unmöglich«.
Zweitens: Mit der Herausgabe der »Krisenhefte« von Marx aus den Jahren 1857/1858 ist nicht nur »die geradezu fanatische Arbeit des notorischen Faktenhubers Marx am empirischen Material« nachverfolgbar, sie machen auch wichtige Schritte der Entwicklung der Theorie bei ihm sichtbar.
Und drittens: Mit dem Abschluss der gesamten zweiten Abteilung der MEGA, die dem Hauptwerk »Das Kapital« gewidmet ist, liegen nun erstmals alle bekannten Versionen und Vorarbeiten dazu vor. »Mithin ist es zum ersten Mal möglich«, so Krätke, »anhand der Quellen zu erklären, wo und warum dieses Marxsche Projekt unvollendet blieb.«
Genau hier setzt Musto an, seine »intellektuelle Biografie« wendet sich dem »späten Marx« der Jahre 1881 bis 1883 zu. Gerade die in den vergangenen Jahren gemachten wissenschaftlichen Fortschritte zeigten einen »Autor, der sich sehr von jener Person unterscheidet, die uns viele Marx-Kritiker oder selbsternannte Anhänger über so lange Zeit präsentiert haben«. Man könne sagen, so Musto, »dass Marx unter den Klassikern des politischen und philosophischen Denkens jener ist, dessen Profil sich in den letzten Jahren am meisten verändert hat«. Was ihn in zu der Vermutung führt, »dass sich die Erneuerung der Interpretation des Marxschen Denkens fortsetzen wird«.
Die letzte Phase des Lebens beschreibt Musto als eine, in der sich neue Suchprozesse entdecken lassen, in der Marx neue Fragen aufwirft, sich neuen Themen zuwendet. Dabei mag manchen nicht nur das Interesse an der damals gerade blühenden Anthropologie oder an der Mathematik aufhorchen lassen, weil das einem sehr verengten Bild von Marx als »kommunistischer Theoretiker« nicht unbedingt entsprechen will.
Aus der Perspektive der an Marx orientierten Diskussion, die nicht nur eine des toten Papiers sein will, sondern auch der praktischen Schlussfolgerungen, wird eher zu berücksichtigen sein, dass Marx sich anders mit der »Spezifik verschiedener Länder« befasst, verschiedene politischen-ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten erschließt und dabei auch »die Möglichkeit eines Sozialismuskonzepts ins Auge« fasst, wie es Musto formuliert, »das von seiner bisherigen Position abwich«. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob Kapitalismus als notwendige Voraussetzung einer kommunistischen Gesellschaft dieser vorausgehen muss.
Musto schildert nicht nur die schwierigen, von Konflikten geprägten Anfänge der Verbreitung von »Das Kapital« in Europa. Nachdem sich Verkaufszahlen und intellektuelles Echo zunächst in Grenzen gehalten hatten, wuchs erst in den 1880er Jahren das, was die Gegner als »die Partei Marx« bezeichneten wirklich an.
Selbst 1881 war Marx »noch nicht der überragende theoretische Bezugspunkt für die internationale Arbeiterbewegung, zu dem er im 20. Jahrhundert werden sollte«, so Musto. Zug um Zug jedoch erreichte sein Werk nun auch Leser jenseits des kleinen Kreises von Anhängern und politisch Aktiven. Vor allem: Man interessierte sich nun nicht mehr zuvörderst für die politischen Schriften wie das »Manifest«, sondern auch für den Kritiker der politischen Ökonomie.
1880 bereiste der Journalist John Swinton Europa, nicht zuletzt mit dem Ziel, Marx für die von ihm herausgegebene »The Sun« zu interviewen, eine der damals in den USA am meisten gelesenen Zeitungen. Als Marx in den 1860er Jahren für die »New York Tribune« schrieb, war Swinton Chefredakteur der »New York Times« gewesen. Nun traf er Marx in Ramsgate, zu dem Musto anmerkt, »der Gesundheitszustand seiner Frau war noch schlechter als der seinige«. Swinton sah sich nach dem Treffen mit Marx, an Sokrates »mit seinen sardonischen Anklängen, seinem Humor und seiner sportlichen Heiterkeit« erinnert. Er habe in der englischen Hafenstadt im östlichen Kent einen Mann »ohne Wunsch nach äußerem Ansehen oder Ruhm« getroffen, »der sich nicht um die Wichtigtuerei des Lebens oder den Anschein von Macht« kümmere.
Von Swinton überliefert ist auch die Formulierung, Marx sei jemand, der »tief in seine Zeit« eingetaucht war, und der US-Journalist zeigte sich beeindruckt durch Marxens Fähigkeit, »die europäische Welt zu überblicken« – und nicht nur diese. In allem aber, und das macht Mustos Buch auch heute politisch wichtig, war er alles andere als ein Wahrheitshuber, ein Verteidiger irgendeines heiligen Kanons.
»Ihn hatten Zweifel befallen, aber er stellte sich ihnen offen; er entschloss sich, seine Forschung fortzusetzen und der unkritischen Lobhudelei der ersten ›Marxisten‹ zu begegnen, anstatt in Selbstsicherheit Zuflucht zu suchen«, schreibt Musto. »Dieser Marx gehört zu einer sehr seltenen, radikal subversiven Sorte von Menschen.« Und er ist nur so zu zu haben – als der erste, wenn man das mal so sagen darf, »Revisionist«, als einer, der beim »wieder hinsehen« neue Fragen entdeckte, welche die bisherigen Antworten als nicht mehr ausreichend dastehen ließen.
Marcello
Musto