Er ist ein hilfreicher Lotse

Der US-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein über die Wirkmächtigkeit von Karl Marx

Professor Wallerstein, 30 Jahre nach dem Ende des sogenannten
realen Sozialismus gibt es zahlreiche Publikationen, Diskussionen und Konferenzen weltweit über die gegenwärtige Bedeutung von Karl Marx. Ist das für Sie überraschend?

Es gibt eine alte Geschichte über Marx: Man wirft ihn zur Vordertür hinaus und er schleicht sich durch ein Fenster wieder hinein. Das passiert momentan wieder. Marx ist bedeutsam, weil wir mit Problemen konfrontiert sind, über die er eine Menge zu sagen hat und weil das, was er sagt, sich total unterscheidet von den meisten anderen Autoren, die sich über den Kapitalismus äußern. Nicht nur ich, viele Kolumnisten und Professoren finden Marx heute extrem nützlich, ungeachtet dessen, was 1989 geschah.

Der Fall der Berliner Mauer hat Marx von den Fesseln einer Ideologie befreit, die wenig mit seinem Gesellschaftskonzept zu tun hatte. Was erregt vor allem an Marxens Interpretation der Welt weiterhin Aufmerksamkeit?

Ich glaube, die meisten Menschen denken bei Marx an seine nterpretation des »Klassenkampfes«. Dieser meint unter den heutigen Bedingungen meiner Ansicht nach den notwendigen Kampf der globalen Linken, die 80 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert, wider die globale Rechte, die vielleicht ein Prozent verkörpert. Der Kampf geht um die restlichen 19 Prozent. Es kommt darauf an, sie auf unsere Seite zu ziehen. Wir leben in der Ära einer strukturellen Krise des Weltsystems. Das existierende kapitalistische System
kann nicht überleben, aber niemand kann sich sicher sein, was es ersetzen wird. Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen der »Geist von Davos«: Das Ziel des Weltwirtschaftsforums ist es, ein System zu etablieren, das die schlimmen Züge des Kapitalismus verteidigt und konserviert: soziale Hierarchie, Ausbeutung und soziale Polarisierung. Die Alternative wäre ein demokratischeres und egalitäreres System. Der Klassenkampf entscheidet, welches System sich durchsetzt.

Können Sie drei Ideen von Marx nennen, die heutzutage besondere Beachtung verdienen?

Zunächst: Marx konnte besser als alle anderen erklären, dass der Kapitalismus eine widernatürliche gesellschaftliche Organisation ist. Im »Elend der Philosophie«, im Alter von 29 Jahren verfasst, verspottete er
bürgerliche Politökonomen, die meinten, dass kapitalistische Verhältnisse naturrechtlich, zeitlos und ewig seien. Zweitens ist seine Terminologie der »ursprünglichen Akkumulation« bedeutsam, welche die Enteignung und Trennung der Bauern von Grund und Boden und die Rekrutierung eines Heeres von Lohnarbeitern beschrieb. Marx verstand dies als konstituierenden Prozess der Herrschaft der Bourgeoisie. Und drittens würde ich stärkere Aufmerksamkeit
hinsichtlich seiner Ausführungen über das Privateigentum und den
Kommunismus empfehlen. In der Gesellschaftsordnung, wie sie in der
Sowjetunion, vor allem unter Stalin, installiert worden ist, waren die Produktionsmittel im Besitz des Staates. Das hieß aber nicht, dass die Menschen nicht ausgebeutet oder unter drückt wurden. Das Gerede vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, wie es Stalin pflegte, wäre Marx niemals in den Sinn gekommen. Es ging ihm um öffentliches, Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, das auch genossenschaftlich ausgeübt werden kann. Es ist wichtig zu wissen, wer den materiellen Reichtum produziert und wer den Mehrwert
kassiert, um die Gesellschaft umzugestalten – hin zum Besseren.
Was beeindruckt Sie am Leben von Marx besonders?
Marx hatte ein sehr schweres Leben, kämpfte mit persönlicher Armut. Er hatte Glück, einen Freund wie Friedrich Engels zu haben, der ihm half zu überleben. Auch emotional war Marx stets unter Druck. Sein Beharren darauf, zu tun, was er seiner Ansicht nach tun müsse, nämlich die Funktionsweise des Kapitalismus verständlich zu machen, war bewundernswert. Marx wollte weder die Antike erklären noch den künftigen Sozialismus definieren. Das war nicht seine Aufgabe. Er wollte die kapitalistische Welt verstehen, in der er lebte.
Marx war kein Akademiker, der sich lediglich hinter die Bücher der British Library in London vergrub, er war auch in revolutionären Kämpfe, so 1848/49, involviert. 1864 war
er Mitbegründer der Internationa len Arbeiterassoziation, der ersten transnationalen Organisation der Arbeiterklasse. Und 1871 verteidigte er die Pariser Kommune, das erste sozialistische Experiment der Weltgeschichte.

Ja, das ist wahr. Wie Sie selbst in Ihrem jüngsten Buch »Workers Unite!« betonen, spielte Marx eine außergewöhnliche Rolle in der Internationale, die eine sehr heterogene Organisation war und wo die Kommunikation nicht leicht war. Marx politische Aktivitäten erstreckten sich auch auf dem Gebiet der Journalistik. Er arbeitete als Journalist, um Geld zu verdienen, aber auch, um politisch wirken zu können. Über Zeitungen und Journale konnte ein größeres Publikum erreichen.

Zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution im vergangenen
Jahr wurde vielfach auf den Unterschied zwischen Marx und seinen selbst ernannten Epigonen verwiesen, die im 20. Jahrhundert an die Macht gelangt sind. Worin
sehen Sie den Unterschied?

Marx’ Schriften sind brillant, subtil und klug, befassen sich mit den vielfältigsten Themen, nicht zu vergleichen mit dem simplen Interpretationen seiner Ideen durch angebliche Eleven. Ich erinnere an seine spitze Bemerkung einst: »Wenn das Marxismus ist, dann bin ich kein Marxist!« Marx interessierte die Wirklichkeit, aus der er seine Ideen entwickelte, während andere die Wirklichkeit ihren dogmatischen Ideen anzupassen gedachten. Marx änderte seine Ansichten oft. Er war ständig auf der Suche nach Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme, die er sah. Deshalb ist er immer noch ein
nützlicher, hilfreicher Lotse.
Was würden Sie Jugendlichen raten, die noch keine Bekanntschaft mit Marx gemacht haben?
Ich würde ihnen empfehlen, Marx zu lesen. Und zwar nicht über ihn, sondern ihn selbst zu lesen. Es gibt Menschen, die lesen tatsächlich noch Marx, die Mehrheit jedoch redet nur über ihn. Das trifft auch auf Adam Smith zu. Viele Menschen glauben, wenn sie Zusammenfassungen der Gedankenwelt der Klassiker lesen, würden  ie Zeit zu sparen, im Gegenteil, sie verschwenden ihre Zeit. Man muss interessante Persönlichkeiten im Original oder in Übersetzungen lesen, und Marx ist zweifellos der interessanteste Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Niemand kommt ihm gleich oder auch nur nahe hinsichtlich des breiten Spektrums seiner Arbeiten. Meine Botschaft an die junge Generation lautet also: Marx ist es wert, entdeckt zu werden, aber ihr müsst ihn selbst lesen. Marx lesen und nochmals lesen!